Chinas wirtschaftspolitisches Dilemma

Chinas wirtschaftspolitisches Dilemma

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Fischer, Doris
Die aktuelle Kolumne (2012)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 05.11.2012)

Bonn, 05.11.2012. China spaltet. Was sich zuletzt in Deutschland an den Diskussionen um die Verleihung des Literaturnobelpreises und des Friedenspreises des deutschen Buchhandels gezeigt hat, gilt auch für die Wirtschaftspolitik. Wie kein anderes Land scheint die Volksrepublik zugleich zu überaus optimistischen Prognosen und Zusammenbruchszenarien einzuladen. Im Jahr 2009 wurde China zum Retter in der globalen Finanzkrise hochstilisiert, jetzt, da sich das Wachstum des chinesischen Bruttosozialprodukts abschwächt, wird schon fast wieder ein Systemzusammenbruch erwartet. Es ist nicht einfach, zwischen diesen Stimmungsextremen einen sachlichen Blick auf Chinas aktuelle Wirtschaftslage zu bewahren.

Mehrere Faktoren tragen zu den Meinungsextremen bei: Zum einen ist China groß. Was wie eine Binsenweisheit klingt, hat dennoch Gewicht für die Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Gesamtlage. So ist es möglich, dass in einer ostchinesischen Stadt wie Wenzhou – Sinnbild für die Erfolge chinesischer Privatunternehmen – der Immobilienmarkt schwächelt und lokal die Banken und die Regierung in Schwierigkeiten bringt, während der Immobilienmarkt in Regionen Zentralchinas weiterhin boomt. Zugleich ist China immer noch wenig transparent. Ungeachtet der Fülle von Statistiken, Unternehmensberichten und Medienberichten, sind verlässliche Informationen und Daten oft schwer zu bekommen. Die Informationen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, unterliegen einem System, das neben der Zensur die Kunst der Meinungsmanipulation perfektioniert hat, angefangen von staatlich vorgegebenen Bildungsinhalten in Schulen und Universitäten bis hin zum Unterwandern von Diskussionen in online-Mediaforen. Hinzu kommt, dass die Gesellschaft geteilt ist. Nach 1992 gab es einen gesellschaftlichen Konsens: Solange die Bevölkerung auf politische Proteste und Unruhen verzichtet, werden alle von den Gewinnen der Reformen profitieren. Nicht jeder wird reich werden, aber alle werden sich deutlich besser stellen. Dieser Konsens droht momentan aufzubrechen: Korruptions- und Umweltskandale; das zerstörte Vertrauen in die Sicherheit der Lebensmittel; Skandale um die Enteignung von Bauern zugunsten von Bauprojekten; eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem Bildungssystem; ein anhaltendes Auseinanderklaffen der Einkommensschere sowie die Informationen über den immensen Reichtum der Familien wichtiger Führungsfiguren. All dies nährt den Eindruck, dass die Politik den Konsens nicht (mehr) gewährleisten kann. Nicht zuletzt ist auch das Wirtschaftssystem gespalten. Die Reformen seit 1978 haben das planwirtschaftliche System aufgelöst. Privatunternehmen trugen wesentlich zu den Erfolgen der letzten 30 Jahre bei. Trotzdem haben die Zentral- und die Lokalregierungen großen Einfluss auf die Wirtschaft. In China wird offen darüber geredet (und häufig beklagt), dass die Staatsunternehmen in den letzten Jahren die Wirtschaft wieder stärker dominierten, während die Privatwirtschaft an die Seite gedrängt wurde. Im Zuge der jüngeren Wirtschaftspolitik hat der Staat wieder aktiver die Steuerung von Branchen und Investitionen übernommen und so den Wettbewerb gelenkt. Dies gilt vor allem für die sogenannten strategischen Branchen. In China wird daher zwischen dem Teil der Wirtschaft „innerhalb des Systems“ (Staatsunternehmen, strategische Branchen, Beamte…) und dem Teil „außerhalb des Systems“ (Privatunternehmen, viele exportverarbeitende Branchen, der informelle Sektor, Bauern, Arbeitslose etc.) unterschieden.

Diese Faktoren spiegeln sich in Wirtschaftszahlen, die für internationale Vergleiche herangezogen werden, nur unzureichend wider. Dies gilt zum Beispiel für das große und damals international gelobte Konjunkturprogramm von 2009. Das Programm führte zu einem raschen Anstieg der Kreditvergabe durch die staatlichen Banken. Die Bewertung dieser Politik hängt nun sehr davon ab, inwieweit die oben genannten Aspekte des chinesischen Systems berücksichtigt werden: Gingen die Kredite vor allem in Prestigeprojekte von Lokalregierungen? Wurde das lokale Privatunternehmertum gestützt? Wurden wirtschaftlich sinnvolle Investitionen getätigt? Wie groß ist das Risiko, dass die Banken künftig mit hohen Kreditausfällen konfrontiert werden? Die Meinungen hierüber gehen auseinander: So hat das Programm zum Beispiel den Ausbau des Eisenbahnnetzes mit Hochgeschwindigkeitslinien finanziert und damit die Verkehrsanbindung vieler Städte verbessert. Allerdings ist das Eisenbahnministerium jüngst von Korruptionsskandalen eingeholt worden, ein schwerer Unfall in 2011 hat Zweifel an der Reife der chinesischen Hochgeschwindigkeitszüge geweckt und wegen Problemen mit den Trassen fahren die Züge heute weit unter den angestrebten Geschwindigkeiten.

Wenn die Regierung in diesem Jahr trotz einer schwachen Konjunktur noch kein neues großes Konjunkturprogramm auflegt, bleibt die Bewertung entsprechend schwierig: Ist dies ein gutes Zeichen, weil sie die Risiken der Politik von 2009 erkannt hat und wieder stärker den Marktkräften trauen will? Oder ein schlechtes Zeichen, das nur die Zerstrittenheit der Regierung in Zeiten des politischen Übergangs widerspiegelt?

Diese Fragen zeigen, dass die großen Herausforderungen, vor denen die chinesische Wirtschaftspolitik steht, ordnungs- und nicht konjunkturpolitischer Art sind. Die Regierung predigt schon länger, dass China ein neues Wachstumsmodell braucht. Das auf exportorientierter, arbeitsintensiver Produktion basierende Wachstumsmodell ist in Anbetracht einer alternden Gesellschaft und steigender Faktorpreise nicht mehr viel versprechend. Innovation, Wissensgesellschaft und grünes Wachstum sind die Ziele für die Zukunft. Bisher hat die Regierung für diesen Wandel vor allem auf industriepolitische Instrumente und staatliche Lenkung vertraut. Es spricht aber einiges dafür, dass das neue Wachstumsmodell nur mit einer neuen Wirtschaftsordnung erreichbar sein wird. Einer Wirtschaftsordnung, die Transparenz und fairen Wettbewerb fördert. Einer Wirtschaftsordnung, die auf einem Bildungssystem basiert, das Kreativität, freies Denken und Widerspruch ermöglicht. Das Dilemma der chinesischen Politik(er) besteht darin, dass eine solche Wirtschaftsordnung für Chinas weitere wirtschaftliche Entwicklung wichtig erscheint, zugleich aber den Bestand der politischen Ordnung und die Privilegien der aktuellen Eliten gefährdet.

Diese Woche steht der 18. Parteitag und eine Neubesetzung der obersten politischen Führungsriege an. Die Kandidaten für die Schalthebel der Macht in China sind bekannt. Welche Politik sie im Detail verfolgen werden, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Das Ausland kann nur hoffen, dass die neue Führung einen Weg findet, der die Folgen der Finanzkrise abfedert, ohne die ordnungspolitischen Weichenstellungen auf die lange Bank zu schieben.

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