Die Zukunftscharta – eine Einschätzung

Die Zukunftscharta – eine Einschätzung

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Mallavarapu, Siddharth
Die aktuelle Kolumne (2014)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 17.12.2014)

Bonn, New Delhi, 17.12.2014. Die Zukunftscharta, am 24. November 2014 von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller an Bundeskanzlerin Angela Merkel und die deutsche Öffentlichkeit übergeben, verdient in vielfacher Hinsicht Anerkennung. Erarbeitet haben die Charta Fachleute aus Theorie und Praxis deutscher Entwicklungszusammenarbeit im Dialog mit verschiedenen Entwicklungsakteuren. Die Autoren benennen darin acht prioritäre Handlungsfelder der „Einen Welt“, in denen umgehend Maßnahmen zu ergreifen sind.

Die Handlungsfelder als solche verdienen Lob. Doch der Teufel steckt im Detail. So sollten wir uns fragen: Unter welchen Voraussetzungen lassen sich die Ziele erreichen? Kaschieren sie mit ihren wohlmeinenden Absichten nicht bloß Machtunterschiede? Oder reden sie vielleicht von Universalität, meinen aber eigentlich geopolitisch begrenztere Projekte? Ich bin kein Zyniker, glaube aber, dass es sich lohnt, genauer darauf zu schauen, wie das Mandat am Ende umgesetzt wird und ob einigen Glaubensgrundsätzen nicht zu viel Gewicht beigemessen wird. Ich denke da an einige traditionelle Götzenbilder der allgemeinen liberalen Debatte wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und verantwortungsvolle Regierungsführung, die als direkt wirkende Heilmittel für eine verstörte Welt gelten.

Politikwissenschaftler und Philosophen befassen sich schon lange mit der Frage, was genau „gutes Leben“ ausmacht. Auch die Charta nutzt diese sensiblen Begriffe, wenn sie uns einlädt, unseren Beitrag zu der „Einen Welt“ zu überprüfen. Wie auf der Jahreskonferenz des Deutschen Rates für Nachhaltige Entwicklung (RNE) im Juni 2014 zu hören war, ist für Kanzlerin Merkel „gutes Leben“ direkt an nachhaltige Entwicklung gekoppelt. Wir alle streben nach einem guten Leben, und viele Elemente eines guten Lebens sind, wie Kant es sah, Teil der menschlichen Natur. Doch das Umfeld, in dem wir leben, macht unser Verständnis von einem guten Leben komplizierter. Gespräche über gutes Leben erwachsen aus einer vertieften Kenntnis lokaler kultureller Normen, Werte und Erwartungen. Auch ohne in kulturellen Relativismus abzugleiten ist es sinnvoll,  Gespräche über Konzepte vom „guten Leben“ in einen weiter gesteckten Vergleichsrahmen einzuordnen, um sich überlappende wie auch divergierende interkulturelle Aspekte zu erkennen.

Was keinesfalls geschehen darf, ist, dass wir, in dem ängstlichen Bemühen um die „Eine Welt“-Position, Vielfalt einebnen, indem wir Unterschiede nur oberflächlich anerkennen oder Pluralität und Inklusivität nur in ritualisierter Weise anrufen. Klarere Worte sind notwendig, um Unterschiede zu achten und diese zu verhandeln. Dabei ist  ein anderes Ziel der Charta, die Menschenwürde, hilfreich. Was ich damit meine, veranschaulicht die auch in Industrieländern verbreitete Islamophobie. Die jüngsten Fälle von rassistisch motivierter Gewalt in den USA belegen, dass Rassenunterschiede immer noch spürbar und ein ungelöstes Problem sind. Im gleichen Atemzug ließe sich auch trefflich über Klassen- und Genderunterschiede sprechen. Wie kann die Staatengemeinschaft strukturelle wirtschaftliche Ungleichgewichte beseitigen, und woher wissen wir, dass sie das ernsthaft beabsichtigt?

Andererseits sehe ich die Charta insofern positiv, als sie Menschen weltweit dazu anregt, die überaus wichtige Frage nach zukünftigen Modellen des Zusammenlebens zu stellen. Diese Modelle umfassen das tägliche Miteinander in und zwischen den Nationen, aber auch Bereiche wie die Außenpolitik, etwa im Falle von Ansprüchen auf Land- oder Seegebiete. Wie lassen sich Konflikte lösen bzw. – noch besser – ganz vermeiden? Wie können wir uns, und wenn auch nur für Augenblicke, aus dem Klammergriff der nationalen Souveränität befreien? Auch hier verweist die Charta auf „Regeln friedlicher Konfliktbearbeitung“. Leider werden sie, vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse, fast reflexhaft mit Forderungen wie der Doktrin Humanitärer Interventionen oder dem Konzept der Schutzverantwortung assoziiert. Natürlich erfordern politische Konflikte mehr als nur ihre „Bearbeitung“. Für alle, die sich dem globalen Frieden verschreiben, besteht die Herausforderung darin, kreativer und praxisnaher an Konfliktvermeidung heranzugehen.

Normative Ziele in einen plausiblen Politikrahmen zu verwandeln ist nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. Wollen wir Gerechtigkeit, müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen. Die bisher geschwiegen haben, müssen eine Stimme bekommen. Wenn dies eine Zukunftscharta ist, müssen wir uns fragen, wie wir von künftigen Generationen beurteilt werden wollen. Wissenschaftler müssen diese Fragen wieder aufgreifen, wenn wir ein positiveres Erbe hinterlassen wollen, als es derzeit wahrscheinlich ist. Die Charta in ihrer jetzigen Fassung bietet interessante Möglichkeiten. Jeder, dem diese Welt nicht gleichgültig ist, muss sich für sie einsetzen.

Siddharth Mallavarapu, Außerordentlicher Professor, South Asian University, Abteilung International Relations, New Delhi.

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