Kulturen der Kooperation

Kulturen der Kooperation

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Leggewie, Claus
Die aktuelle Kolumne (2012)

Bonn, Essen 12.03.2012. Die Welt steht am Anfang des 21. Jahrhunderts vor einer Art von Kooperationsparadox. Kooperationen gehen nach landläufiger Meinung individuelle und kollektive Akteure ein, die gemeinsame Ziele verfolgen; kooperationsabgeneigt sind hingegen Akteure, die konträre Weltanschauungen haben und entgegengesetzte Ziele verfolgen. Bis 1990, in der Ära des Ost-West-Konfliktes, standen sich aber zwei völlig gegensätzliche Blöcke gegenüber, die dennoch kooperierten. Sie waren militärisch bis an die Zähne bewaffnet, ideologisch trennten sie Welten, und sozialökonomisch waren die Gesellschaftsformationen von Kapitalismus und Kommunismus unvereinbar. Aber es einte die beiden Machtblöcke das Ziel, eine Eskalation des Kalten Krieges zum nuklearen Konflikt und damit die kollektive Selbstvernichtung zu verhindern.

Heute ist das Paradox anders herum gestrickt. Die Welt, die mittlerweile multipolar geworden ist und neue Machtakteure hervorgebracht hat, ist sich – glaubt man den Proklamationen der G8- und G20-Gipfel oder den UN-Verhandlungen – über generelle Ziele wie Wirtschaftswachstum und Freihandel, Begrenzung des Klimawandels und des Artensterbens, Reform der Finanzmärkte und Beseitigung der Armut im Kern einig. Zeitdiagnostiker wie Francis Fukuyama haben deswegen die Rhetorik des Philosophen Hegel vom „Ende der Geschichte“ wiederbelebt.

Bei aller normativen und ideologischen Konvergenz mangelt es an Instrumenten, Institutionen und Akteuren, den Konsens in die Realität umzusetzen. Beispielhaft kann man hier die fast weltweit beschworene „Zwei-Grad-Leitplanke“ nennen, also die proklamierte, von fast allen Staaten bekräftigte Absicht der Weltgemeinschaft, die vom Menschen gemachte Erderwärmung auf zwei Grad (gegenüber dem Basisjahr 1880) zu begrenzen. In Ermangelung weltweit verbindlicher Abkommen steuert die Welt aber faktisch auf eine Erwärmung von weit mehr als zwei Grad zu und damit auf gefährliche Kipppunkte, welche die Existenz der Menschheit in ähnlicher Weise aufs Spiel setzen wie eine Konfrontation mit Kernwaffen (die im Übrigen weiterhin im Bereich des Möglichen liegt).

Woran liegt das? Liegen unüberwindbare Interessendivergenzen vor, sehen und beurteilen die Menschen die Weltlage anders, folgen sie unterschiedlichen Werten? Das in der Spieltheorie gebräuchliche Gefangenendilemma besagt, dass auch Spieler, welche die Möglichkeit hätten zu kooperieren, um gemeinsam zu gewinnen, den anderen Spieler verraten, wenn sie dessen Wahl nicht kennen und ihm deswegen misstrauen.

An der Stelle kurzsichtiger Nutzenmaximierung sehen andere Zeitdiagnosen Kultur- oder Zivilisationsunterschiede als Ursachen verweigerter Kooperation an. Ob „Kultur“ nun ein Hindernis oder einen Beschleuniger für Zusammenarbeit darstellt, hängt nicht zuletzt davon ab, was man unter diesem Begriff genau versteht. Hält man Kultur für eine unauflösliche, schwer transplantierbare Substanz, dann unterstellt man – wie Samuel P. Huntington – eher einen Konflikt zwischen den Kulturen; betrachtet man hingegen kulturelle Differenz – und das nicht nur zwischen Ethnien und Religionen, sondern auch zwischen Geschlechtern und Generationen, zwischen Oben und Unten, Mentalitäten und Milieus ! – als die Normalbeziehung moderner Gesellschaft, dann wird man sich um Bedingungen bemühen, unter denen diese unterschiedlichen Welten gemeinsame Ziele am besten verwirklichen können.

Es ist erstaunlich, wie wenig die Forschung über den „Faktor Kultur“ bislang weiß. Kooperation wird überwiegend in kleinen Gruppen untersucht, die gemeinsame Ziele erreichen wollen. Dabei unterstellt man vor allem eine Nutzengemeinschaft und einen gemeinsamen Kulturhintergrund. Wo Kooperation dann wider Erwarten nicht zustande kommt, bringt man die Residualgröße „Kultur“ in Anschlag – erst um das Scheitern zu erklären, dann eventuell auch, um es zu überwinden oder abzuwenden. Wie Kooperation in größeren Gruppen, in internationalen Großorganisationen oder gar zwischen Gesellschaften funktioniert, die kulturell auf die eine oder andere Weise verschieden sind (das ist wie gesagt der Regelfall), bleibt ein Rätsel.

Im kürzlich gegründeten Käte Hamburger Kolleg „Politische Kulturen der Weltgesellschaft“ wollen wir dieser ihrer Natur nach transdisziplinären Frage grundlagentheoretisch und empirisch beikommen. Wie funktionieren zum Beispiel interkulturelle Teams wie Flugzeugbesatzungen oder Katastrophenhelfer, wie im Krankenhaus, Polizeidienst, Bürgerzentrum, wo Belegschaften wie Klientele sprachlich und kulturell immer differenzierter werden? Ist die UN-Generalversammlung eine diplomatische Bühne kulturblinder Machtpolitik oder im übertragenen Sinne auch ein Theater der Kulturen der Welt? Gibt es so etwas wie asiatische Werte (und stehen sie im Gegensatz zu christlich-abendländischen, was immer solche sein sollen)? Sind fremde Kulturen also Quelle der Bereicherung, oder begegnen sie sich wie Hund und Katz’? Wer will es so sehen – und wer unterstellt das genaue Gegenteil, eine humane Disposition zur Empathie? Hilft es, fremde Regionen bereist zu haben, oder steigert es die Vorurteilsbeladenheit eher? Wie funktionieren altruistische Hilfeleistungen und globale Solidaritäten bei Epidemien, Hungersnöten und philanthropischen Taten? Wir alle machen dazu im multikulturellen Alltag bestimmte Beobachtungen, aber mit Bestimmtheit kann man die Ambivalenz des Kulturfaktors nicht einschätzen.

Statt sich a priori auf seine heilsame oder unheilvolle Wirkung zu versteifen, sollte man deswegen auf die Kultur der Kooperation selbst achten. Kooperative Beziehungen beruhen nämlich nicht einzig oder vorrangig auf der Übereinstimmung von Interessen im Tit for Tat, also auf geteilten Nutzenerwartungen und wechselseitigen Obligationen des Homo oeconomicus. Kooperation zeichnet auch und gerade das „zwecklose“ Spiel von Kindern aus; die Improvisation eines Musik-Ensembles findet nicht (nur) statt, um eine Platte zu verkaufen, auch das Ballettensemble wirkt aus Spaß an der Freude zusammen und der Chor singt wesentlich um des gemeinsamen Singens willen. Diese kleinen Beispiele sollen den intrinsischen Wert von Kooperation an und für sich belegen, der auf Empathie beruht und emergent, also aus sich heraus, zustande kommt. Der Gabentausch, der wechselseitige Obligationen bewirkt, aber auch eine „irrationale“ Vergeudung beinhalten kann, ist ein aus der Ethnologie in die Kulturwissenschaften eingewandertes Konzept, das es unter den Bedingungen globaler Interaktion zu prüfen gilt. Worauf es in der globalen Kooperation ankommt, ist also mehr denn je, diese kulturellen Elemente zu analysieren und mit aller Vorsicht auf große Verhandlungsarenen und Konfliktgegenstände anzuwenden.

Prof. Dr. Claus Leggewie ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI) und Co-Direktor des Käte Hamburger Kollegs „Politische Kulturen der Weltgesellschaft“.

Ebenfalls an dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Kolleg beteiligt sind das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen und das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

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