Mehr als 60 Jahre deutsche Entwicklungspolitik: noch keine Aussicht auf den Ruhestand

Mehr als 60 Jahre deutsche Entwicklungspolitik: noch keine Aussicht auf den Ruhestand

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Guido Ashoff
Die aktuelle Kolumne (2014)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 04.09.2014)

Bonn, 04.09.2014. Die deutsche Entwicklungspolitik hat schon vor zwei Jahren ihren 60. Geburtstag erlebt. Ähnlich wie im persönlichen Leben brauchte sie rund zwanzig Jahre, um erwachsen zu werden. Sie begann 1952 mit der finanziellen Beteiligung an einem Beistandsprogramm der Vereinten Nationen für Länder der Dritten Welt und 1956 mit der Einrichtung eines 50-Millionen-DM-Fonds des Auswärtigen Amtes für bilaterale Hilfe. Der Deutsche Bundestag setzte sich Ende der 1950er Jahre für eine aktive Nord-Süd-Politik ein. Das wachsende finanzielle Volumen der Entwicklungszusammenarbeit (EZ), die von verschiedenen Ministerien verwaltet wurde, und koalitionspolitische Erwägungen führten 1961 zur Gründung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). 1993 bekam es den Zusatz „und Entwicklung“. Das BMZ war zunächst ein Koordinierungsministerium. 1964 erhielt es die Zuständigkeit für Grundsätze und Programme der Entwicklungspolitik sowie für die Technische Zusammenarbeit und 1972 die Zuständigkeit für die Finanzielle Zusammenarbeit und die multilaterale EZ. Nach der deutschen Einheit wurde ein Teil der EZ-Projekte der ehemaligen DDR weitergeführt. 1998 erhielt das BMZ die Zuständigkeit innerhalb der Bundesregierung für die EZ der Europäischen Union.

Die deutsche Entwicklungspolitik weist trotz vieler Veränderungen Konstanten auf. Sie war und ist Teil der Gesamtpolitik der Bundesregierung. Ihre Zielbestimmung bewegte sich immer zwischen internationaler Solidarität und Eigeninteressen unterschiedlicher Akzentuierung. Sie genießt im politischen Kräftespiel und der öffentlichen Wahrnehmung keine Priorität, kann sich aber trotz Differenzen auf einen Grundkonsens bei den im Bundestag vertretenen Parteien stützen. Im Gegensatz zu vielen anderen Geberländern verfügt Deutschland über kein Gesetz zur Entwicklungspolitik, wohl aber über ein eigenes Ministerium und eigene Durchführungsorganisationen. Zu den Konstanten gehört auch, dass Deutschland EZ auf bilateraler, europäischer und multilateraler Ebene betreibt und trotz gegenteiliger Absichtserklärungen nie das internationale Ziel von 0,7 % des Bruttonationalprodukts für öffentliche EZ erreicht hat (2013: 0,38 %).

Die Veränderungen betreffen zunächst den gesamtpolitischen Rahmen. Zu Beginn standen zwei Motive im Vordergrund: internationale Solidarität als Verpflichtung der wirtschaftlich erstarkenden Bundesrepublik, die selbst von der Marshall-Plan-Hilfe profitiert hatte, sowie das Bemühen um weltweite Anerkennung der Bundesrepublik in der bipolaren Welt. Letzeres führte zur Ausdehnung der EZ auf weit über hundert Länder (von Kritikern als „Gießkannenprinzip“ bezeichnet) und gipfelte in der Hallstein-Doktrin, die EZ an die Nichtanerkennung der DDR knüpfte. Im Zuge der Entspannungspolitik änderte sich der Kontext. Die Entwicklungspolitik verstand sich nunmehr als Teil von Friedenspolitik und, nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und mit dem wachsenden Bewusstsein für die Risiken der Globalisierung, als Teil globaler Strukturpolitik. Unterhalb dieser Ebene hat es in unterschiedlichem Maße Einflussnahme anderer Interessen auf die Entwicklungspolitik gegeben, etwa Export- und Arbeitsmarktinteressen.

Die deutsche Entwicklungspolitik hat den internationalen Paradigmenwechsel von der Förderung des Wirtschaftswachstums über die Befriedigung der Grundbedürfnisse, Unterstützung von Strukturanpassungen und Förderung guter Regierungsförderung bis hin zu den Millenniumsentwicklungszielen und den künftigen Nachhaltigkeitszielen immer mit vollzogen. Sie verfügt über eine beachtliche konzeptionelle Kompetenz und eine international anerkannte Professionalität in der Durchführung. Beides hat der Entwicklungspolitik in der Bundesregierung eine deutliche fachliche Eigenständigkeit verliehen. Sie ist wichtig, um die international anerkannte Mitverantwortung aller Politiken für die globale Entwicklung (Politikkohärenz für Entwicklung) einzufordern und zu fördern. Kompetenzstreitigkeiten mit dem Auswärtigen Amt blieben nicht aus, konnten aber meist pragmatisch geregelt werden. Seit einigen Jahren engagieren sich andere Bundesministerien mit eigenen Finanzmitteln in der EZ. Zu wünschen ist, dass sie nicht frühere Fehler wiederholen, sondern die Erfahrungen des BMZ nutzen und die internationalen Vereinbarungen zur Verbesserung der Wirksamkeit der EZ beachten.

Kann sich die deutsche Entwicklungspolitik bald in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden? Eher nicht, auch wenn manche Zeitgenossen Entwicklungspolitik als Auslaufmodell betrachten. Richtig ist, dass sich die internationale Entwicklungsdynamik verändert. Es gibt weniger Entwicklungsländer, Schwellenländer treten als neue Geber auf, die Bedeutung der EZ gegenüber anderen Finanzströmen nimmt ab. Dennoch leben 2014 noch weltweit über eine Milliarde Menschen in extremer Armut, es gibt 48 least developed countries und 45 fragile oder gescheiterte Staaten und nicht zuletzt zahlreiche globale Entwicklungsherausforderungen. Deutschland hat hier eine große Verantwortung. Mit seiner Entwicklungspolitik verfügt es über wichtige Erfahrungen und Potenziale.

Über den Autor

Ashoff, Guido

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