Ein Blick auf die neue globale Mittelschicht

Ein Blick auf die neue globale Mittelschicht

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Guarin, Alejandro
Die aktuelle Kolumne (2012)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 27.02.2012)

Bonn 27.02.2012. In den letzten 15 Jahren wurde die Welt Zeuge einer stillen Revolution: Mehr als eine Milliarde Menschen sind Teil einer wachsenden globalen Mittelschicht geworden. Sie sind nach westlichen Maßstäben nicht reich. Aber sie haben der Armut den Rücken gekehrt und verfügen über Zeit und Geld für mehr als das bloße Überleben. Das Wachstum dieser Mittelschicht globalen Ausmaßes ist größtenteils auf das rasante Wirtschaftswachstum in China und Indien zurückzuführen, und es wird höchstwahrscheinlich anhalten. Heute lebt rund die Hälfte der globalen Mittelschicht in Europa, Nordamerika und wenigen anderen wohlhabenden Ländern. Bis 2030 werden etwa zwei Drittel der weltweit schätzungsweise fünf Milliarden Mittelschichtbürger – mehr als drei Milliarden Menschen – in Schwellenländern vor allem in Asien leben.

Warum ist das eine Revolution? Die Mittelschicht ist eine historische Anomalie. Die meisten Menschen, die je gelebt haben, waren sehr arm. Marx und Engels, die die Geburtsstunde der Industrialisierung miterlebten, schrieben: „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat“. Aber es geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatten: Die Löhne stiegen, und im Endeffekt wurde die arbeitende Bevölkerung reicher, nicht ärmer. Statt einer tiefen Spaltung erlebte die Industriegesellschaft das Erstarken einer breiten wohlhabenden Mittelschicht.

Das ist eine Erfolgsgeschichte der Menschheit. Heute beschweren wir uns über den traurigen Zustand unserer Wirtschaft oder die Unzulänglichkeiten unserer politischen Führung. Aber historisch betrachtet ist die Existenz einer Gesellschaft wie der Deutschlands, in der die Mehrheit der Menschen gesund ist und Bildung, Freizeit und politische Mitbestimmung genießt, ein seltener Triumph.

Bis vor kurzem beschränkte sich dieser Erfolg auf eine sehr kleine Zahl von Menschen in wenigen Ländern. Der Großteil der Weltbevölkerung ist und bleibt arm. Aber die Dinge ändern sich: Die Erfolgsgeschichte könnte weltweite Ausmaße annehmen. Warum ist das wichtig, wenn Milliarden Menschen der Armut doch nicht entkommen? Ich möchte kurz erläutern, warum wir uns meiner Ansicht nach mit dem Wachstum einer globalen Mittelschicht beschäftigen sollten – und zwar jetzt.

Erstens: Eine breite Mittelschicht kann ein Wachstumsmotor für die Wirtschaft sein. Sie ist Bestandteil eines Circulus virtuosus, in dem Wohlstand für mehr Wohlstand sorgt und wirtschaftlicher Erfolg dauerhaft gesichert werden kann. Insofern reicht der Einfluss einer breiten Mittelschicht weit über die eigenen Grenzen hinaus – sie kann sich positiv auf die Armen auswirken. Mit ihren Steuern finanziert sie ein soziales Netz, von demauch die Ärmsten profitieren.

Zweitens: Die Angehörigen der Mittelschicht sind in der Regel gut ausgebildet und aktiver am politischen Leben beteiligt. Eine starke Mittelschicht profitiert eher von Rechtsstaatlichkeit, einer unabhängigen Justiz und generell von mehr politischer Transparenz und Rechenschaftspflicht und wird sie demzufolge unterstützen. Kurzum: Eine starke Mittelschicht kann institutionelle Strukturen verbessern.

Das Wachstum der Mittelschicht hat indes nicht nur Vorteile – es bedeutet auch Herausforderungen. So zahlt die Umwelt für die Erfolgsgeschichte einen hohen Preis. Die Lebensbedingen von Millionen Menschen konnten nur verbessert werden durch den ungehemmten Verbrauch natürlicher Ressourcen, der einen hohen Druck auf die regulatorischen Prozesse unseres Planeten aufgebaut hat (vgl. „Die aktuelle Kolumne“ vom 30. Januar 2012). Der bekannteste, wenn auch nicht der einzige Nebeneffekt unseres komfortablen Lebensstils ist wohl der Klimawandel. Was wird passieren, wenn weitere zwei oder drei Milliarden Verbraucher nach mehr Big Macs, Audis und Kreuzfahrten in der Karibik verlangen? Falls das Wachstum der globalen Mittelschicht dem gleichen, für die Umwelt zerstörerischen Pfad folgt, den schon die Industrieländer gehen, besteht in der Tat Anlass zur Sorge.

Und die möglichen Umweltfolgen eines neuen Massenkonsums sind nicht der einzige Grund zur Sorge. Mit dem wachsenden Wohlstand in Entwicklungsländern, vor allem in China und Indien, wird sich das Gravitationszentrum der Weltwirtschaft in absehbarer Zeit nach Asien verlagern. Denn während die Bevölkerung Europas bis 2030 voraussichtlich schrumpft, wird die Mittelschicht Indiens Prognosen zufolge von 50 auf fast 600 Millionen Menschen anwachsen. Das sind mehr Menschen, als derzeit in der gesamten Europäischen Union leben! Was bedeutet das für Geopolitik und Global Governance?

Offen gesagt: Keiner weiß das so genau. Schlüsse aus bisherigen Erfahrungen sollten wir nur mit Vorsicht ziehen. Zum einen sieht die globale Mittelschicht vollkommen anders aus als die Mittelschicht der Industrieländer, wie wir sie kennen. Ein typisches Mittelschichteinkommen in Deutschland zum Beispiel liegt bei etwa 16.000 Euro pro Person und Jahr. Unsere Definition der globalen Mittelschicht verwendet dagegen viel niedrigere Schwellenwerte, was zur Folge hat, dass ein Chinese oder Brasilianer schon mit einem Jahreseinkommen von 3.500 Euro zur Mittelschicht zählen kann. Zumindest im Moment besteht die globale Mittelschicht aus Menschen, die eben erst die Armutsgrenze überschritten haben.
Noch wichtiger ist aber: Die Welt ist komplex und facettenreich und unser Wissen über sie äußerst einseitig. Was wir als allgemeingültiges menschliches Verhalten betrachten, kann sich als bloßer Spleen einer kleinen, von der Norm abweichenden Gruppe erweisen: der westlichen Welt und speziell ihrer nördlichen Hälfte. So wissen wir immer noch relativ wenig darüber, wie sich die neuen Mittelschichtkonsumenten verhalten, auch wenn es dabei um enorme wirtschaftliche Interessen geht. Werden sie zum Einkaufen lieber in Supermärkte gehen, wie vor allem in Rio de Janeiro? Oder wollen sie weiterhin an Straßenständen einkaufen, wie die Bewohner Pekings? Werden sie öffentlichen Verkehrsmitteln treu bleiben oder auf das Auto umsteigen?

Noch ungewisser ist die künftige politische und kulturelle Rolle der neuen Mittelschicht. Am Beispiel Chinas und Indiens wird deutlich, wie sich Einkommen in grundverschiedenen politischen Systemen und sozialen Institutionen einander angleichen können. Wird ein wohlhabendes China eher auf politische Reformen drängen, oder wird die wachsende Mittelschicht die Stabilität eines Einparteiensystems nur widerwillig aufgeben? Werden höhere Einkommen in Indien die traditionell wichtigen Familienbindungen und Wertvorstellungen stärken oder schwächen?

Für Antworten auf diese und viele andere Fragen können wir weder auf Vorlagen noch auf frühere Erfahrungen zurückgreifen. Die Entwicklungspolitik sieht sich mit dem Wachstum der Mittelschicht vor eine unerwartete Herausforderung gestellt. Bislang ging es bei Entwicklung in erster Linie darum, Armut zu bekämpfen. In einer sich wandelnden Welt könnte die neue Aufgabe darin bestehen, Wohlstand zu verwalten.

Über den Autor

Dzebo, Adis

Politikwissenschaftler

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