Energiewende diesseits und jenseits des Mittelmeers: ein mehrdimensionales Vorhaben

Energiewende diesseits und jenseits des Mittelmeers: ein mehrdimensionales Vorhaben

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Vidican, Georgeta
Die aktuelle Kolumne (2012)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 30.04.2012)

Bonn, 30.04.2012. In wenigen Wochen kommen führende Politiker und Experten aus aller Welt zum Rio+20-Gipfel zusammen, um Strategien auszuloten, mit denen Regierungen, Privatwirtschaft und globale Institutionen nachhaltige Entwicklung fördern sollen. Die zu bewältigenden Herausforderungen bestehen nicht so sehr in der Verfügbarkeit technischer Lösungen: Die größeren Stolpersteine sind politischer Wille und ein Interessenabgleich zwischen Befürwortern und Gegnern dessen, was der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) als „Große Transformation“ bezeichnet. Allmählich setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich dieses Ziel nicht mit isolierten Lösungen (wie einer speziellen Technik, einer nationalen Strategie oder einem Vorhaben) verwirklichen lässt. Benötigt werden vielmehr ganzheitliche Lösungen und überregionale Strategien. Bei den Planungen für den Ausbau umweltfreundlichen Energieerzeugung in Europa spielen deshalb die technischen Potentiale der erneuerbaren Energien in der MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) eine immer größere Rolle.

Ein Beispiel für solche Konzepte ist die DESERTEC-Initiative unter deutscher Federführung. Ihr Ziel ist eine beispiellose Integration der Energiemärkte von Ländern der MENA-Region und Europas. Der Export sauberer Energie aus MENA-Ländern bietet die Chance, mit erneuerbaren Energieträgern CO2-Reduktionsziele in Europa zu erreichen, die Wettbewerbsfähigkeit der Privatwirtschaft zu steigern, Arbeitsplätze zu schaffen und so den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Entwicklung in den Ländern des südlichen Mittelmeerraums zu fördern (siehe hierzu „Die aktuelle Kolumne“ vom 4. April 2011).

Allerdings wird dieser Wandel durch die Herausforderungen, die der Arabische Frühling den MENA-Ländern gebracht hat, nicht einfacher. Der Umstieg auf nachhaltige Energien ist für sie ein Muss. Die meisten Länder in der Region importieren fossile Energieträger, was angesichts eines steigenden Energiebedarfs nationale Haushalte stark belastet und die Energiesicherheit gefährdet. Gleichzeitig behindern eine hohe Jugendarbeitslosigkeit (in Ägypten bis zu 25 Prozent), wenig technologisches Know-how Fähigkeiten, ein begrenztes Engagement für den politischen und wirtschaftlichen Transformationsprozess und schwache Institutionen die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder.
Der zu erwartende Zufluss internationaler Finanzmittel für Erneuerbare-Energien-Projekte eröffnet MENA-Ländern die Chance, ihr technologisches Know-how auszubauen, gegenüber weiter fortgeschrittenen Volkswirtschaften aufzuholen und einer dynamischen Privatwirtschaft Auftrieb zu verleihen. Eine wirtschaftliche Diversifizierung würde zudem den für die Region entscheidenden Ausstieg aus rentenökonomischen Strukturen erleichtern.

Die meisten Hürden auf diesem Weg sind sozioökonomischer und politischer Natur. Insbesondere zwei Hindernisse sind unverzichtbar für eine zukunftsfähige ganzheitliche Energiewende: ein neuer Gesellschaftsvertrag, der vor allem das System der Subventionierung fossiler Energieträger reformiert, und neue Kanäle für Entwicklungszusammenarbeit auf Basis belastbarer Partnerschaften und regionaler Integration. Hierbei kommt Deutschland, einem der wichtigsten Partner der Region, eine zentrale Rolle zu.

Ein neuer Gesellschaftsvertrag
Der für die neopatrimonialen Governance-Strukturen in der MENA-Region maßgebliche Gesellschaftsvertrag basierte auf einer strategischen Umverteilung von Renten als Mittel zur Legitimierung von Politik. Das wichtigste Werkzeug, mit dem sich die politisch herrschende Klasse legitimiert hat, waren Subventionen für fossile Energieträger, die Bevölkerungsgruppen mit mittleren und höheren Einkommen unverhältnismäßig stark begünstigen (siehe hierzu „Die aktuelle Kolumne“ vom 13. Februar 2012).
Das jetzige Regime der Subventionierung fossiler Energieträger zu erhalten wäre aus mehreren Gründen problematisch, denn es erschwert die Entwicklung neuer Investitionsmöglichkeiten und verzögert den Übergang zu Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit: Die Subventionierung fossiler Energieträger wird erstens für MENA-Regierungen immer kostspieliger. Ägypten zum Beispiel wendet, vorsichtig geschätzt, aktuell mindestens sechs Prozent seines Bruttoinlandsprodukts dafür auf (rund 12 Mrd. Euro). Die Subventionen verringern zweitens den staatlichen Spielraum für Sozialleistungen und Beschäftigungsprogramme, führen drittens zu übermäßigem Verbrauch und damit auch zu höheren CO2-Emissionen und behindern viertens die Nutzung erneuerbarer Energien, denn sie halten den Strompreis künstlich niedrig und lassen die staatliche Förderung von Investitionen in erneuerbare Energien damit vergleichsweise teurer erscheinen. Steigen die Preise fossiler Brennstoffe, verschärfen sich diese Effekte weiter. Entscheidungsträger, die Maßnahmen hinauszögern, vergeuden wertvolle Steuereinnahmen, betreiben eine regressive Politik und verpassen Chancen, das Energiesystem zu transformieren.

Demzufolge ist der Abbau von Subventionen für fossile Energieträger – Kernelement des derzeitigen Gesellschaftsvertrags – die Voraussetzung für eine Energiewende in der MENA-Region. Ohne diese Maßnahme rückt die Chance auf eine Integration der Energiemärkte Europas und der MENA-Länder in weite Ferne, da groß angelegte Erneuerbare-Energien-Projekte vergleichsweise teuer bleiben. Eine solche Reform ist nicht leicht umzusetzen. Die positiven Erfahrungen anderer Länder aber zeigen, dass eine politisch und sozial verträgliche Reform möglich ist, wenn die Argumente der Reformer transparent gemacht und soziale Ausgleichsmaßnahmen durchgeführt werden.

Kohäsive Zusammenarbeit
Deutsche Bundesministerien haben eine Reihe von Vorhaben umgesetzt, die der mehrdimensionalen Bedeutung einer Zusammenarbeit mit der MENA-Region im Bereich erneuerbarer Energien Rechnung tragen. In ihrem Energiekonzept weist die Bundesregierung Nordafrika ausdrücklich eine wichtige Rolle zu – für Deutschland und für Europa allgemein. Gleichwohl müssen die politischen Schwerpunkte klar definiert und die Bemühungen der verschiedenen Ministerien, Durchführungsorganisationen, der universitären und der Branchenakteure in einer „whole of government“-Strategie gebündelt werden. Zudem entstanden im Gefolge des Arabischen Frühlings neue Möglichkeiten einer regionalen Zusammenarbeit innerhalb der Region Nordafrika. Die Energiewende sollte dort als Möglichkeit verstanden werden, neue Formen internationaler und interregionaler Zusammenarbeit zu prägen, und nicht nur als Möglichkeit, wichtiges neues Know-how-Transfer in die Region zu holen. Erforderlich ist ein strategischer, mit öffentlichen und privaten Akteuren abgestimmter Ansatz, zum Beispiel mit deutlicher Unterstützung durch das Kanzleramt im Rahmen der deutschen „Energiewende“. Ein solcher Ansatz sollte den politischen Dialog auf höchster Ebene über Fragen einer Energiewende im Mittelmeerraum verknüpfen mit Forschungskooperationen, institutionellen Partnerschaftsprogrammen und mit technischer und finanzieller Zusammenarbeit.

Beide Dimensionen implizieren, dass Lösungen für eine umfassende Energiewende nördlich und südlich des Mittelmeers das gesamte sozioökonomische und politische Spektrum einbeziehen und dabei neue Formen einer internationalen Zusammenarbeit entwickeln müssen.

Über die Autorin

Auktor (ehemals Vidican)

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