Gedanken zum Europatag 2012: wo bleibt die Bekämpfung von Ungleichheit bei der EU-Entwicklungspolitik?

Gedanken zum Europatag 2012: wo bleibt die Bekämpfung von Ungleichheit bei der EU-Entwicklungspolitik?

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Negre, Mario / Mark Furness
Die aktuelle Kolumne (2012)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 07.05.2012)

Bonn, 07.05.2012. Europäische Entscheidungsträger ringen um eine überzeugende Antwort auf die schwierige Frage, wie sich sozioökonomische Ungleichheit in Entwicklungsländern überwinden lässt. Immer deutlicher zeigt sich, dass die anhaltend hohe Ungleichheit der Armutsminderung entgegenwirkt und selbst die Wachstumsrate als solche drückt. Mehr als 60 % der Armen weltweit leben nach wie vor in Ländern mit mittlerem Einkommen wie China, Indien, Indonesien, Nigeria und Pakistan. Der Internationale Währungsfonds kam unlängst in einer Studie zu dem Ergebnis, dass längere Wachstumsphasen fast immer mit einer gerechteren Einkommensverteilung verbunden sind. Andererseits zeigt die Erfahrung der letzten zehn Jahre in Lateinamerika, dass an Bedingungen geknüpfte Bargeldtransfers an Arme zu einem signifikanten Rückgang von Ungleichheit und Armut geführt haben.

Die Europäische Kommission bestätigt in ihren jüngsten politischen Erklärungen, dass Ungleichheit ein erhebliches Entwicklungshindernis darstellt. Trotzdem unternimmt sie nur wenig, um diese Ungleichheit zu überwinden. Laut der „Agenda für den Wandel“ vom Oktober letzten Jahres will sich die EU auf „ein breitenwirksames und nachhaltiges Wachstum“ konzentrieren, „bei dem die Menschen am Wohlstand und an der Schaffung von Arbeitsplätzen teilhaben und davon profitieren.“ Dieses Konzept mit den Schwerpunkten Handel, Governance und Stabilität wird durch Investitionen in Humankapital, Gesundheit und Bildung unterstützt. Das Wort „Ungleichheit“ fällt in der Agenda nur ein einziges Mal, aber gemeint ist Chancenungleichheit, nicht Einkommensungleichheit. Bei der Verabschiedung der „Agenda für den Wandel“ während des Entwicklungsrates am 14. Mai 2012 werden die EU-Mitgliedsstaaten wahrscheinlich darauf beharren, dass die Zuweisung von Entwicklungsgeldern von den Entwicklungsunterschieden zwischen Partnerländern abhängen, nicht von den Unterschieden innerhalb der Partnerländer.

Die Praxis europäischer Entwicklungszusammenarbeit offenbart, wie schwierig es ist, Politik zum Abbau von Ungleichheit umzusetzen. Die Kommission plant ca. 20 % ihrer Entwicklungsgelder für Programme ein, die sozialen Zusammenhalt stärken. Der größte Teil des Geldes wird jedoch für Maßnahmen ausgegeben, die Wirtschaftswachstum und gute Regierungsführung fördern sollen, zum Beispiel Polizei- und Justizreformen. Diese Maßnahmen sind sinnvoll, aber dem Problem der Ungleichheit werden sie nicht gerecht. Zudem stützt sich die Kommission mit ihrem jüngsten Vorschlag, die Entwicklungszusammenarbeit mit Ländern „mittleren Einkommens“ einzustellen, auf Berechnungen des Bruttoinlandsprodukts (BIP) pro Kopf und den Anteil der Partnerländer an der Weltwirtschaft – Ungleichheit bleibt dabei unberücksichtigt.

Gezielte Maßnahmen zum Abbau von Einkommensdisparitäten sollten zentraler Aspekt jeder entwicklungspolitischen Strategie sein. So sollte die EU-Entwicklungspolitik darauf hinwirken, dass Steuersysteme stärker Verteilungsfunktionen übernehmen können und dass der Armutsorientierung von Sozialausgaben in Ländern mit hoher Ungleichheit mehr Gewicht beigemessen wird. Das bedeutet auch, die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu stärken, sowohl in Bezug auf die Steigerung des Wohlstands als auch auf staatliche Investitionen in und Unterstützung für Wirtschaftssektoren, die langfristiges Wachstum und gute, sichere Arbeitsplätze schaffen können.

Ungleichheit – ein heißes Eisen
Vor dem Europäischen Parlament vertrat EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs die Ansicht, dass die Auseinandersetzung mit der Einkommensverteilung für breitenwirksames Wachstum unverzichtbar ist. Hinter den Kulissen jedoch bestätigen Kommissionsmitglieder, dass die Bereitschaft, sich im Rahmen von Politik und ihrer Durchführung mit Ungleichheit zu befassen, gering ist – Piebalgs Bekenntnis zum Trotz. Als Grund wird angeführt, Ungleichheit sei in Partnerländern ein politisch sensibles Thema und aus Respekt vor ihren inneren Angelegenheiten zu meiden. Dies steht in krassem Gegensatz zu der Art und Weise, wie die Europäische Union die Handelsliberalisierung fördert und die Bedingungen für Unternehmen verbessert, einschließlich der sogenannten Singapur-Themen (öffentliche Auftragsvergabe, Handelserleichterungen, Investitionen und Wettbewerbspolitik), die von den meisten Entwicklungsländern in der Welthandelsorganisation abgelehnt werden. Und es widerspricht den „universellen Werten“, zu denen sich die EU in ihren Erklärungen zur Entwicklungspolitik und in Übereinkünften mit Nicht-EU-Ländern bekennt.

Einer der wichtigsten Gründe, warum sich die EU schwertut, Ungleichheit in ihrer Entwicklungspolitik offen anzusprechen, ist, dass dies eine Stärkung der Umverteilungsfunktion des Staates bedeuten würde – ein Ziel, für das sich nur wenige Entscheidungsträger starkmachen würden. Auch die anhaltende Euro-Krise wirkt sich auf die Fähigkeit der Europäischen Union aus, am Abbau von Ungleichheit in Entwicklungsländern mitzuwirken. Die Entwicklungshilfe-Budgets von EU-Mitgliedstaaten geraten durch finanzpolitische Zwänge zunehmend unter Druck. Obendrein hat die EU Mühe, den Abbau von Ungleichheit in Entwicklungsländern politisch zu fördern, wenn europäische Sparmaßnahmen ein breitenwirksames Wachstum konterkarieren, das Modell des Wohlfahrtsstaates aushöhlen und damit soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im eigenen Haus spürbar vergrößern.

Das soziale Erfolgsmodell der EU – für den Export ungeeignet
Das Modell breitenwirksamen Wachstums in Europa hat seit dem Zweiten Weltkrieg zu einem durchweg hohen Niveau menschlicher Entwicklung und sozialem Zusammenhalt beigetragen. Den aktuellen Zunahmen europäischer Gini-Koeffizienten zum Trotz liegen die Ungleichheitsmaße in der EU weit unter denen der meisten Länder mit mittlerem Einkommen. Das Wissen, wie Entwicklung auf kohärente Weise gefördert werden kann, ohne große gesellschaftliche Gruppen aus dem Wachstumsprozess auszugrenzen, ist ein maßgeblicher komparativer Vorteil der Europäischen Union. Aus dieser Erfahrung lassen sich wichtige Lehren ziehen. Sie können auf Europas Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern, die sich dem Thema Ungleichheit stellen wollen, angewendet werden.

Das Gebot, Ungleichheit zu überwinden und Zusammenhalt sicherzustellen, ist nirgendwo deutlicher zu erkennen als in „Europa 2020“, der Wachstumsstrategie der EU für das kommende Jahrzehnt, zu deren fünf Hauptpfeilern sozialer Zusammenhalt zählt. Allerdings ist das, was mit Blick auf einen „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“ für die EU von Bedeutung ist, nämlich Einkommensungleichheiten in Schach zu halten, nicht für den Export in Form von europäischer Entwicklungszusammenarbeit gedacht.

Die Tatsache, dass der Abbau von Ungleichheit ein Kernelement der europäischen Binnenstrategien, aber nicht der EU-Entwicklungspolitik ist, kann auf eine ideologische Abkehr von der Förderung eines Sozialmodells für Entwicklungsländer hindeuten. Offenbar schreckt die EU vor Modellen zurück, die für Europa funktionierten und vor allem in Teilen Lateinamerikas zu funktionieren beginnen. Stattdessen wendet sie sich dem „Wachstum-plus-Sicherungsnetze“-Modell der Weltbank zu, mit zusätzlichem Akzent auf der Privatwirtschaft. Das bedeutet zwar eine Verbesserung gegenüber dem Washington Consensus, beruht aber immer noch mehr auf der „Trickle-down“-Philosophie als auf einem Konzept, das wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt betont.

Über die Autor*innen

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Furness

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