Kriege, Flüchtlinge und eine „Systemkrise“: Die internationale Nothilfe muss reformiert werden

Kriege, Flüchtlinge und eine „Systemkrise“: Die internationale Nothilfe muss reformiert werden

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Grävingholt, Jörn / Benjamin Schraven
Die aktuelle Kolumne (2016)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 23.05.2016)

Bonn, 23.05.2016. Gegenwärtig wird humanitäre Hilfe so stark beansprucht wie selten zuvor. Kriege, Instabilität, Ungleichheit, Naturkatastrophen und daraus resultierende Flüchtlingskrisen führen dazu, dass heute weltweit etwa 125 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Aber auch das internationale humanitäre System ist in der Krise: Es mangelt ihm an Wirksamkeit, an Effizienz und an Gerechtigkeit bei der Lastenverteilung und der Zuteilung seiner Hilfe. Es vernachlässigt viele chronische Brandherde und den Aufbau lokaler und regionaler Fähigkeiten.

Organisationen der Vereinten Nationen, denen eine entscheidende Rolle im internationalen humanitären System zukommt, konkurrieren zu oft miteinander und mit anderen. Dies geht zu Lasten einer guten Koordination. Selbst UN-Generalsekretär Ban Ki-moon fordert tiefgreifende Veränderungen bei der Art und Weise, wie die Vereinten Nationen ihrer humanitären Verantwortung nachkommen. Der humanitäre Weltgipfel, der am 23. Mai in Istanbul beginnt, muss den Weg für diese Veränderungen ebnen.
In mindestens vier wesentlichen Bereichen müssen Reformen angestrebt werden:

Erstens geht es um die Verknüpfung von unmittelbarer humanitärer Hilfe mit strukturbildender Unterstützung, also Entwicklungszusammenarbeit. Bei den meisten Akteuren herrscht Einigkeit, dass die Verzahnung der humanitären Hilfe mit der Entwicklungszusammenarbeit verbessert werden muss, um Menschen in Notlagen eine nachhaltige Perspektive zu geben. Die konkreten Lösungsvorschläge gehen allerdings bislang kaum über die Verbindlichkeit allseitiger Absichtserklärungen hinaus. Die Stärkung der resident coordinators – des jeweils höchsten Vertreters der Vereinten Nationen in einem Land – wäre ein wichtiger Schritt. Die Kompetenzen dieser Position sollten ausdrücklich um die Aufgabe erweitert werden, eine abgestimmte Planung von (a) Nothilfe, (b) mittelfristig stabilisierenden Maßnahmen und (c) langfristiger struktureller Entwicklungszusammenarbeit zu erreichen.

Zweitens sind bewaffnete Konflikte Hauptverursacher humanitärer Notlagen. Der bereits vor einiger Zeit veröffentlichte Bericht des Generalsekretärs zum Weltgipfel fordert daher an erster Stelle mehr Einsatz, um Kriege zu verhindern und Frieden zu fördern. In der internationalen Debatte ist dieser Punkt auf wenig konkrete Resonanz gestoßen. Denn die Organisationen der Vereinten Nationen sind Akteure, die ihr Mandat als möglichst unpolitisch definieren und damit in kritischen Situationen oft faktisch die Position der Regierungen unterstützen – auch wenn dies im schlimmsten Fall zu einer Konflikteskalation beitragen kann. Die Vorstellung einer politischen Neutralität in (Post-)Konfliktsituationen muss daher kritisch hinterfragt werden. Regelmäßige Do-no-harm-Analysen in Krisen- und Konfliktländern – also Untersuchungen, wie Hilfe vor allem konfliktsensibel gestaltet werden kann – wären in dieser Hinsicht ein guter Ausgangspunkt.

Drittens müssen die Organisations- und Entscheidungsstrukturen im humanitären System der Vereinten Nationen in zwei Richtungen hin reformiert werden, die zunächst widersprüchlich scheinen: Zentralisierung und Dezentralisierung. Zentralisiert werden sollte die Koordination im Falle einer humanitären Krise: Hier sollte die Rolle des UN-Nothilfekoordinators durch Ausweitung seiner Zuständigkeiten gestärkt werden (analog zu den resident coordinators). Dabei wäre es besonders wirkungsvoll, wenn auch die finanzielle Zuständigkeit in seinen Händen läge.
Eine Dezentralisierung sollte zugleich die Handlungsfähigkeit lokaler und nationaler humanitärer Organisationen in Krisensituationen stärken. Die Rolle internationaler Organisationen bestünde dann in erster Linie darin, nationale und lokale Organisationen nach Bedarf dabei zu unterstützen, den notwendigen Aufgaben nachzukommen. Nur wo dies nicht möglich ist, kämen internationale Organisationen direkt zum Einsatz.

Viertens ist die derzeitige Finanzierung des humanitären Systems problematisch. Es basiert weder auf festen noch auf verbindlichen Beitragssätzen. Dies führt immer wieder zu Finanzierungslücken mit teils drastischen Konsequenzen wie der Kürzung von Lebensmittelrationen für Bedürftige und hat eine Konkurrenz der UN-Organisationen untereinander um die knappen Mittel zur Folge. Das von Ban Ki-moon im Mai 2015 eingesetzte und mit internationalen Vertretern aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft besetzte „High-Level Panel on Humanitarian Financing“ empfiehlt eine festere, mehrjährig gebundene Beitragsfinanzierung. Geldmittel sollten „zweck-ungebundener“ werden, um sich auch humanitärer Notlagen anzunehmen, die weitgehend aus dem Blick öffentlicher Wahrnehmung verschwunden sind. Humanitäre Organisationen sollten zudem ihre Finanztransparenz erhöhen und stärker zu bargeld-basierter Hilfe übergehen, da durch diese lokale Lösungen besser zum Tragen kommen.

Das Zeitfenster für strukturelle Reformen ist eng. Im September befasst sich die Generalversammlung mit dem turnusmäßigen Vierjahres-Review des UN-Entwicklungssystems. Angedachte Strukturveränderungen, die darin nicht zur Sprache kommen, werden es schwer haben in absehbarer Zeit auf anderen Wegen Zustimmung zu finden. Der weltweite Bedarf an humanitärer Hilfe wird in den nächsten Jahren kaum kleiner werden. Deshalb ist es entscheidend, dass der humanitäre Weltgipfel zu konkreten Reformschritten führt.


Dieser Beitrag ist auch auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN) erschienen.

Über die Autor*innen

Grävingholt, Jörn

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Schraven, Benjamin

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