Osama Bin Laden und die Entwicklungsrunde in der WTO: Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

Osama Bin Laden und die Entwicklungsrunde in der WTO: Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

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Wiemann, Jürgen
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 16.05.2011)

Bonn, 16.05.2011. Eine Verbindung zwischen der Ikone des islamistischen Terrorismus und der Entwicklungsrunde in der WTO zu ziehen, mag auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen. Doch erinnern wir uns: Nur drei Monate nach den von Osama Bin Laden verantworteten Terroranschlägen auf New York und Washington vom 11. September 2001 wurde in Doha, Katar, die erste multilaterale Verhandlungsrunde in der 1995 neugegründeten Welthandelsorganisation WTO eingeläutet. Die Staatengemeinschaft fühlte sich zur Solidarität mit den USA aufgefordert, und es galt, die Funktionsfähigkeit der Weltwirtschaftsordnung und ihrer Institutionen unter Beweis zu stellen. Gleichzeitig sollte mit einer weiteren Runde von Handelsliberalisierungen der zu befürchtenden weltweiten Rezession entgegengewirkt werden.

Bei der vorherigen WTO-Ministerkonferenz in Seattle 1999 war der Einstieg in eine neue Verhandlungsrunde am Widerstand der Entwicklungsländer gescheitert. Diese hatten eine Korrektur der für sie ungünstigen Ergebnisse der letzten Runde im GATT verlangt, bevor sie sich auf Verhandlungen über neue Spielregeln und Abkommen einlassen würden. Doch die USA und die EU versprachen, die Runde zu einer „Entwicklungsrunde“ zu machen, und konnten damit, zumal in dem weltpo­litisch aufgeheizten Klima nach 9/11, den Widerstand der Entwicklungsländer gegen den Einstieg in eine neue Runde brechen. Ohne die Anschläge hätten die Entwicklungsländer ihre Zustimmung in Doha vermutlich erneut verweigert. Insofern kann Osama Bin Laden als unfreiwilliger „Geburtshelfer“ der Doha-Entwicklungsrunde in der WTO angesehen werden.

Entwicklungsrunde oder business as usual?
Ob es eine Fehlgeburt war, lässt sich auch nach zehn Jahren nicht mit Sicherheit ausschließen. Sogar WTO-Generaldirektor Pascal Lamy hat jüngst an den Zusammenhang zwischen 9/11 und der Doha-Runde erinnert und die Hektik der Monate zwischen den Anschlägen und der Ministerkonferenz dafür verantwortlich gemacht, dass nicht mehr Zeit und Kraft darauf verwendet wurde, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ein weniger umstrittenes Verhandlungsmandat auszuarbeiten. Und Charlene Barshefsky, die damalige Handelsbeauftragte der amerikanischen Regierung, hatte früher schon einmal verlauten lassen, dass es ein Fehler gewesen sei, die neue Runde mit dem Label „Entwicklungsrunde“ zu überlasten. Weder die USA noch die EU hätten sich ernsthaft darauf eingestellt, den Forderungen der Entwicklungsländer entgegenzukommen, ohne gleich wieder reziproke Gegenleistungen zu fordern. Je länger die Runde dauert und je mehr ihr Gründungsakt in Vergessenheit gerät, umso schwieriger wird es, den üblichen Verhandlungsmodus von Handelsverhandlungen zu verlassen.

Handelspolitik spielt sich ja nicht nur zwischen Ländern ab, sondern mehr noch auf der innenpolitischen Bühne zwischen den voraussichtlichen Gewinnern und Verlieren von Handelsliberalisierung, von neuen Spielregeln und Abkommen für den internationalen Handel und den internationalen Dienstleistungsverkehr. Wenn der amerikanische Präsident eine Handelsöffnung oder einen Abbau von Agrarsubventionen anbieten will, kann er die Zustimmung des Kongresses nur dadurch gewinnen, dass den exportorientierten Wirtschaftszweigen interessante neue Exportchancen durch entsprechende Marktöffnungsangebote der anderen Industrieländer und vor allem auch der Schwellenländer in Aussicht gestellt werden. Solange aber die Schwellenländer nicht nachgeben und ihre Märkte nicht in dem von den USA geforderten Umfang öffnen, wird es keinen Erfolg der Runde geben.

WTO ohne intellektuellen Kompass?
Die Hängepartie der WTO-Runde ist zum einen mit dem zunehmenden weltwirtschaftlichen Gewicht der großen Schwellenländer Brasilien, China und Indien zu erklären, die an einem Strang ziehen und noch dazu die meisten kleineren und die weniger entwickelten Länder hinter sich wissen. Für den Stillstand der WTO-Runde ist zum anderen aber auch die Erosion des Urvertrauens der ökonomischen Wissenschaft in die Freihandelsdoktrin und die daraus abgeleiteten handelspolitischen Empfehlungen für Industrie- wie Entwicklungsländer verantwortlich. Immer mehr international renommierte Ökonomen stellen die Entwicklungsverträglichkeit der reinen Freihandelslehre unter Berufung auf die Erfahrungen Japans und der südostasiatischen Tigerstaaten in den 1960er bis 1980er Jahren sowie auch Chinas seit 1978 und Indiens seit 1991 in Frage. Diese Länder haben ihre exportorientierte Industrialisierung mit einer neo-merkantilistischen Mischung aus staatlicher Exportförderung durch Subventionen und unterbewertete Währungen auf der einen und flankierendem Importschutz für die neuen mit staatlicher Industriepolitik auf internationale Wettbewerbsfähigkeit getrimmten Industrien auf der anderen Seite vorangetrieben. (Übrigens beruhte das deutsche Wirtschaftswunder der 1950er und 60er Jahre auf einem ähnlichen Policy Mix.) Dieser Policy Mix unterscheidet sich fundamental von den Liberalisierungs- und Privatisierungsempfehlungen des Washington Consensus, von dem inzwischen sogar der chinesische Chef­ökonom der Weltbank abgerückt ist.

Für die Welthandelsordnung der WTO ist die intellektuelle Abkehr vom Washington Consensus insofern von eminenter Bedeutung, als einige der neuen WTO-Abkommen und Spielregeln aus der Uruguay-Runde den Politikspielraum für neo-merkantilistische Industriepolitik und Exportförderung erheblich einengen. Die kritischen Ökonomen stimmen mit der globalisierungskritischen Zivilgesellschaft darin überein, dass der Übergang vom GATT zur WTO und die damit verbundene tiefere Integration zu weit gegangen sei, und dass es nun an der Zeit wäre, die Balance zwischen globalen Spielregeln und nationaler Souveränität in der Wirtschaftspolitik neu auszutarieren.

Solange der fundamentale Dissens zwischen den Industrieländern und den Entwicklungs- und Schwellenländern, aber auch zwischen den orthodoxen und den heterodoxen ökonomischen Denkschulen im Hinblick auf Entwicklungswirkung von Handelsliberalisierung im Vergleich zu protektionistischer Industriepolitik nicht ausgeräumt ist, wird es keinen alle Seiten zufrieden stellenden Abschluss der Doha-Runde geben. Nachdem nun der „Geburtshelfer“ der Doha-Runde ausgeschaltet ist, sollten die Industrieländer endlich die Karten auf den Tisch legen und entweder asymmetrische Konzessionen anbieten, um die Runde doch noch zu einer Entwicklungsrunde zu machen, oder sie sollten den Mut aufbringen, das Missverständnis aufzulösen, sie hätten 2001 eine Entwicklungsrunde angestrebt. Dann wäre der Weg frei für einen echten Neubeginn in der WTO, deren Reputation und Effektivität durch eine weitere Verlängerung der Hängepartie unnötig in Mitleidenschaft gezogen würde, ganz zu schweigen von dem damit verbundenen Risiko eines weltweit sich verstärkenden Protektionismus. Schließlich könnten nach dem Ende der Doha-Runde die neuen handelspolitischen Herausforderungen bearbeitet werden, wie Handelsmaßnahmen und Klimaschutz oder Exportbeschränkungen für knappe Rohstoffe und Nahrungsmittel die zu übertriebenen Preissteigerungen auf den Weltmärkten führen.

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