Steht Entwicklungszusammenarbeit am Rande des Chaos?

Steht Entwicklungszusammenarbeit am Rande des Chaos?

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Janus, Heiner/Sebastian Paulo
Die aktuelle Kolumne (2013)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 25.11.2013)

Bonn, 25.11.2013. Entwicklungszusammenarbeit polarisiert. Kritiker mahnen, dass Entwicklungsgelder eher schaden als nutzen. Befürworter entgegnen, dass die Zusammenarbeit Leben rettet. In seinem Buch „Aid on the edge of Chaos“ (Oxford University Press, erschienen am 24. Oktober 2013) plädiert Ben Ramalingam für einen Mittelweg. Moderne Entwicklungszusammenarbeit hat grundlegende Mängel, kann jedoch reformiert werden. Ähnliche Diskussionen sind schon ausgiebig geführt worden. Aber „Aid on the edge of Chaos“ legt einen neuen Meilenstein in die Debatte. Das Innovative an Ramalingams Ideen ist dabei nicht die Kritik an der Entwicklungszusammenarbeit, sondern die Anwendung der „Komplexitätstheorie“. Sie bietet Methoden an, um Entwicklungsprobleme besser zu lösen.

Alte Kritik, neue Methoden
Ramalingam erklärt, dass sich viele Entwicklungsprobleme am „Rande das Chaos“ befinden, d. h. zwischen einfachen Kausalbeziehungen und vollständiger Unordnung. Dies enthält die Kritik, dass Entwicklung dynamisch und komplex, Entwicklungszusammenarbeit aber zu statisch und linear ist. Entwicklungszusammenarbeit gleiche oft einer Maschine, die Standardrezepte für klar definierte Aufgaben produziert. Für jedes Problem gibt es eine passende Lösung: Impfkampagnen bekämpfen Krankheiten, Dünger steigern landwirtschaftliche Erträge. Aus der Summe dieser Entwicklungsergebnisse entsteht Entwicklung wie am „Fließband“. Das klingt nach Altbekanntem. Internationale Standards der Entwicklungszusammenarbeit fordern seit Langem, Entwicklungsmaßnahmen nicht einfach vorzuschreiben. Die Einsicht, dass Entwicklungsmaßnahmen selten ein externer Antrieb für Veränderungen sind, sondern stärker katalytisch eingesetzt werden müssen, ist ebenfalls bereits weit verbreitet.

Doch warum sollte „Aid on the edge of Chaos“ trotzdem zur Pflichtlektüre für Entwicklungsinteressierte werden? Der eigentliche Beitrag des Buches ist nicht die Kritik, sondern die neue Methode: Ramalingam liefert mit Hilfe der „Komplexitätstheorie“ das analytische Instrumentarium, um sich am „Rande des Chaos“ zu orientieren. Dazu nimmt er den Leser mit auf einen beeindruckenden interdisziplinären Rundgang durch theoretische Ansätze, die aus den Naturwissenschaften stammen. Der Autor reiht sich damit in die Tradition von Elinor Ostrom, Trägerin des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften, ein. Ostrom hat in ihrer Forschung unter anderem evolutionstheoretische Konzepte auf die Sozialwissenschaft angewandt. Ramalingam führt nun eine Vielzahl neuer exotischer Konzepte für die Entwicklungszusammenarbeit ein: wie Power laws, fitness landscapes, network analysis, agent-based modelling oder positive deviance. Mit diesen Ideen will Ramalingam die Entwicklungszusammenarbeit besser mit ihrer komplexen Umgebung in Einklang bringen.

Vom Fließband in den Garten
Ramalingam betrachtet Entwicklung als einen „organischen“ Vorgang, der durch Entwicklungszusammenarbeit unterstützt werden kann. Anstatt „mechanisch“ Musterlösungen vorzugeben, sollte Entwicklungszusammenarbeit eine fruchtbare Umgebung für Entwicklungsprozesse schaffen, ähnlich wie es ein Gärtner für seine Pflanzen tut. Entwicklung ergibt sich aus den Wechselwirkungen komplexer sozialer, politischer, wirtschaftlicher und ökologischer Systeme. Dieses „Entwicklungsökosystem“ ist mehr als die Summe seiner Teile, so wie die Persönlichkeit eines einzelnen Menschen mehr ist als die gesammelte Beschreibung seiner Körperzellen. Als Teil dieses Systems muss Entwicklungszusammenarbeit sich dynamisch anpassen.

Mit zahlreichen Fallbeispielen illustriert Ramalingam, wie die Komplexitätstheorie in der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden kann. Der Autor nimmt Bezug auf Bereiche wie die Landwirtschaft in Indonesien, den Katastrophenschutz in Mosambik oder die Malariabekämpfung in Kenia. In Kenia, zum Beispiel, scheiterte zunächst der Versuch, die Verbreitung von Moskitos durch massiven Einsatz von Insektiziden einzudämmen. Während die Moskitos Resistenzen entwickelten und sich an neue Bedingungen anpassten, blieb die Antwort darauf lange unbeweglich. Als erfolgreicher Gegenentwurf wurde schließlich ein ganzheitlicher Ansatz verfolgt, der verschiedene lokal entstandene Strategien kombinierte: etwa Anbaumethoden in der Landwirtschaft, Moskitonetze, natürliche Schutzpflanzen und Aufklärungskampagnen. Ein solches Vorgehen passt sich dynamischen Umständen an und bringt kreative Lösungen hervor. Die Fallbeispiele liefern wichtige Erkenntnisse, wie Entwicklungszusammenarbeit Ideen aus der Komplexitätstheorie umsetzen kann.

In den Wirren der Komplexität
Insgesamt wirft Ramalingam in seinem Buch mehr Fragen auf als er Antworten gibt. Dies stimmt mit seiner Ablehnung von Musterlösungen überein. Dennoch wird der Autor dem eigenen Anspruch an Komplexität teilweise nicht gerecht. Für ein Buch, das die Komplexität von Entwicklungsprozessen erfassen möchte, ist der Fokus auf Entwicklungszusammenarbeit sehr eng. Ramalingam weist zwar zu Recht darauf hin, dass diese Form der Unterstützung immer nur ein Teil der Lösung ist. Gleichzeitig erfüllt er damit seine Forderung, das „Entwicklungsökosystem“ in seiner Gesamtheit zu betrachten, nicht. Hinzu kommt, dass Entwicklungsgelder in vielen Ländern tendenziell an Bedeutung verlieren. Entwicklungsfragen werden immer komplexer, aber in den seltensten Fällen ist Entwicklungszusammenarbeit der „Gärtner“. Sie ist lediglich ein Akteur unter vielen.

Der Autor wendet den Komplexitätsgedanken zudem unvollständig an, wenn er mehr Aufmerksamkeit für den lokalen Kontext einfordert. Die Betonung des Lokalen hat auch ohne diesen theoretischen Überbau schon immer Entwicklungsdebatten geprägt. Wendet man Komplexität auf Probleme wie Klimawandel, Nahrungssicherheit und Epidemien an, dann ist Kontext wichtig. Aber Kontext ist häufig weder geographisch noch thematisch einzugrenzen.

Komplexitätstheorie als Wegweiser am Rande des Chaos
Dennoch und trotz unserer Kritikpunkte zeigt „Aid on the edge of chaos“ erfolgreich neue Wege in der Entwicklungsdebatte auf. Die Anwendung der Komplexitätstheorie begründet ein innovatives Forschungsfeld und gibt gleichzeitig konkrete Hinweise für die Praxis. Ramalingam kultiviert auf beeindruckende Weise einen vielversprechenden Ansatz für die Zukunft der Entwicklungszusammenarbeit.

Entwicklungszusammenarbeit ist immer nur Teilantwort auf Armut und andere Herausforderungen. Genauso zeigt die Komplexitätstheorie nur einen Teil der notwendigen Reformen auf. Doch sie ist ein wichtiger Wegweiser „am Rande des Chaos“, wo Entwicklungszusammenarbeit ihre größte Innovationskraft entfalten kann.

Über den Autor

Janus, Heiner

Politikwissenschaft

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