Covid-19, Armut und Ungleichheit

Wachsende Ungleichheit kann die Auswirkungen der Pandemie noch verschlimmern

Wachsende Ungleichheit kann die Auswirkungen der Pandemie noch verschlimmern

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Negre, Mario / Daniel Gerszon Mahler / Christoph Lakner
Die aktuelle Kolumne (2020)

German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne vom 18.06.2020

Wie sich Covid-19 auf unseren Alltag auswirkt, ist nicht zu übersehen. Weniger offensichtlich sind die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie auf die Armut in der Welt. Der wirtschaftliche Verlust, der aktuell weltweit auf etwa 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) geschätzt wird, vermittelt nur ein unvollständiges Bild der tatsächlichen gesellschaftlichen und menschlichen Kosten. Die Berechnung könnte ähnlichen Verzerrungen unterliegen wie viele Klimafolgenabschätzungen. So erscheint der absolute Verlust in wohlhabenden Gebieten häufig größer, was aber lediglich darauf zurückzuführen ist, dass es dort in wirtschaftlicher Hinsicht mehr zu verlieren gibt. Bezüglich der Auswirkungen auf ihren Lebensunterhalt sind jedoch ohnehin bereits gefährdete Gemeinschaften am stärksten betroffen. Jeder Nettoverlust bedeutet für sie den Verlust eines größeren Teils ihres ohnehin knappen Einkommens, und die Wirkungen werden weit über Einkommensschocks hinausgehen.

Es ist daher wichtig, die Folgen der Pandemie für die globale Armut abzuschätzen und zu prüfen, inwieweit dadurch unsere Fähigkeit beeinträchtigt wird, die extreme Armut global zu beseitigen, wie es die Ziele für nachhaltige Entwicklung bis zum Jahr 2030 vorsehen. Dieser Aufgabe hat sich ein Team der Weltbank angenommen. Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und die Weltbank haben in diesem Zuge ein Modell entwickelt, dass die globale Armut bis 2030 ebenso wie die Rolle simuliert, die eine Veränderung von Ungleichheiten für die Erreichung des Armutsziels spielt. Laut dieses Modells können durch die Covid-19-Pandemie weltweit etwa 70 Millionen Menschen zusätzlich in extreme Armut fallen.

Bedenkt man, dass das Einkommensniveau, bei dem eine Person im weltweiten Vergleich als extrem arm gilt, der durchschnittlichen Armutsgrenze in mehreren der ärmsten Länder entspricht, ist dieser Trend wahrlich besorgniserregend. Tritt das Ergebnis der Simulation ein, müssen etwa 70 Millionen Menschen zusätzlich mit etwas weniger als zwei Dollar (genauer gesagt 1,90 USD mit der Kaufkraftparität von 2011) pro Person und Tag auskommen. Zu den rund 600 Millionen Menschen, die schon jetzt in extremer Armut leben, kämen also noch über 10 Prozent hinzu. Noch viele mehr werden in die darüber liegende Kategorie der zwar nicht extremen, aber immer noch sehr großen Armut fallen.

Eine weitere wichtige Frage ist, wie sich die globale Rezession in verschiedenen Einkommensgruppen innerhalb der Verteilung niederschlagen wird. Die obige Schätzung von 70 Millionen zusätzlichen Armen geht davon aus, dass die Einkommen innerhalb der gesamten Einkommensverteilung gleich stark sinken werden. In den Entwicklungsländern sind von den „Lockdown“-Maßnahmen jedoch viele Menschen betroffen, die im informellen Sektor oder in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten. Viele dieser Geringverdiener werden möglicherweise für einige Monate einen Großteil ihres Einkommens verlieren. Sie sind also überproportional benachteiligt, wodurch sich die Ungleichheit noch verstärkt. Der Rückgang des BIP kann sich also innerhalb der Einkommensverteilung unterschiedlich stark niederschlagen. Die Verteilungseffekte der Rezession müssen also berücksichtigt werden.

Da über die Verteilungseffekte noch keine Daten vorliegen, lässt sich nur simulieren, wie sich die Veränderungen der Ungleichheit auf die geschätzte Armut auswirken. Wenn die Ungleichheit gemessen am Gini-Index, einem Standardmaß zur Darstellung von Ungleichheit, weltweit um 1 Prozent ab- oder zunimmt, könnte die Zahl der zusätzlichen extrem Armen entsprechend 55 oder 85 Millionen betragen. Eine solche prozentuale Veränderung der Einkommensverteilung bewegt sich im Rahmen dessen, was in einem beliebigen Land innerhalb eines Jahres üblich ist. Der Unterschied zwischen den Zahlen würde sich auf etwa 40 bis 100 Millionen Menschen vergrößern, wenn die Veränderung der Ungleichheit in der Größenordnung von 2 Prozent liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Ungleichheit in allen Ländern auf die gleiche Weise ändert ist sehr gering. Dennoch erhält man so eine Vorstellung von der Bandbreite der Ergebnisse, wenn man Veränderungen bei der Verteilung berücksichtigt: Sollte der Gini-Index um 2 Prozent sinken, könnte dies die Auswirkungen der Pandemie auf die globale Armut fast halbieren. Eine Steigerung um 2 Prozent würde sie um fast 50 Prozent verstärken.

Für die politischen Entscheidungsträger der Welt und vor allem für die entwicklungspolitischen Akteure ist daher nicht nur die aggregierte Auswirkung der Pandemie entscheidend, sondern auch die wichtige Rolle der Bekämpfung der Ungleichheit für die Abschwächung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Unsere Berechnungen zeigen, dass den Regierungen auch bei stagnierendem Wirtschaftswachstum eine außerordentliche Verantwortung zukommt. Sie müssen nicht nur antizyklisch handeln, um das Wachstum anzukurbeln – idealerweise mit Investitionen in eine ökologisch nachhaltige Weltwirtschaft – sondern auch die Lebensgrundlagen von Menschen in den unteren Einkommenssegmenten sicherstellen. Das beinhaltet insbesondere die Vertiefung und Ausweitung sozialer Sicherung, sowie die Stärkung weiterer Maßnahmen zur Bekämpfung von Ungleichheit, wie zum Beispiel progressiver Besteuerung und Investitionen in ländliche Infrastruktur. Politisches Handeln muss sich jetzt darauf konzentrieren, die ungleichen Auswirkungen der Pandemie abzumildern und dafür zu sorgen, dass die wirtschaftlichen Maßnahmen in ihrer Gesamtheit geeignet sind, Ungleichheit zu verringern.


Mario Negre ist Ökonom und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprogramm Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE).

Daniel Gerszon Mahler is Ökonom und Young Professional in der Development Data Group der Weltbank

Christoph Lakner ist Senior Economist der Development Data Group bei der Weltbank.


Dieser Text ist Teil einer Sonderreihe unseres Formats Die aktuelle Kolumne, die die Folgen der Corona-Krise entwicklungspolitisch und sozioökonomisch einordnet. Sie finden die weiteren Texte hier auf unserer Überblicksseite.

Über den Autor

Negre, Mario

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