Warum so nervös?

Warum so nervös?

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Fischer, Doris
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 09.05.2011)

Bonn, 09.05.2011. In jüngerer Zeit bekommen wir widersprüchliche Signale aus China: Eben noch galt das Land als stabiler Fels in der Brandung der globalen Finanzkrise, alle redeten von der wachsenden Bedeutung Chinas in Weltwirtschaft und -politik, dann reagiert die chinesische Regierung auf einmal wenig souverän auf die Vergabe des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo, inhaftiert Journalisten und Rechtsanwälte und stößt deutsche Kooperationspartner mit der Verhaftung des international renommierten Künstlers Ai Weiwei vor den Kopf. Passt das alles zusammen?

Ja, aber nur wenn man die Logik der zentralen Leitlinien chinesischer Politik berücksichtigt. Diese orientiert sich an zwei Zielsetzungen: politisch-gesellschaftlicher Stabilität und wirtschaftlicher Entwicklung. Beide Zielsetzungen basieren auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens: Mit der Einleitung der Reformen Ende der 1970er Jahre wollte die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung eine ca. 150-jährige Geschichte von Kriegen, Bürgerkriegen und ‚permanenter Revolution‘ (kurz: Chaos (luan)) ebenso hinter sich lassen wie die damit einhergehenden Entbehrungen und die Schmach wirtschaftlicher Unterentwicklung.

„Stabilität“ und „Entwicklung“ stehen in einem konstanten Spannungsverhältnis. Zwar kann wirtschaftliche und soziale Entwicklung zur Stabilität beitragen, wie auch Stabilität gemeinhin der wirtschaftlichen Entwicklung zuträglich ist. Hierauf beruht die Logik der chinesischen Politik, die versucht, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Zielen herzustellen. Aber Entwicklung impliziert Veränderung, während Stabilität immer auch Beharrung bedeutet. Und so kann ein Festhalten am Alten wirtschaftlich und sozial notwendige Veränderungen bremsen. Wirtschaftliche Veränderungen und Entwicklungen können wiederum erhebliche politische und gesellschaftliche Anpassungen erzwingen.

Seit Beginn der Reform war das Gleichgewicht zwischen den beiden zentralen Zielsetzungen chinesischer Politik zweimal massiv gefährdet: Ende der 1980er und Ende der 1990er Jahre. In beiden Fällen standen weit reichende wirtschaftliche Reformen an, um die Wirtschaftsentwicklung zu sichern. In beiden Fällen waren die Reformen höchst umstritten. Heute steht China erneut an einem Scheideweg, und es wird intern heftig über den richtigen Weg in die Zukunft diskutiert: China sucht nichts weniger als ein neues Wachstumsmodell.

Beim Blick auf die beiden vergangenen Krisen, die ganz unterschiedlich bewältigt wurden, fällt als Gemeinsamkeit die kritische Rolle der Akademiker für die gesellschaftliche und politische Stabilität auf: Die Protestbewegung im Jahr 1989 entstand aus der Unzufriedenheit der Akademiker mit ihrer Lebenssituation. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass andere Gesellschaftsgruppen von der wirtschaftlichen Entwicklung profitierten, sie (Professoren, Studenten, Journalisten etc.) aber nicht. Die Bewegung startete mit Forderungen nach Abschaffung des korrupten Parallelsystems von Markt und Plan und weitete sich allmählich zu einer breiteren Protestbewegung aus. Im Lauf der Proteste solidarisierten sich immer mehr gesellschaftliche Gruppen mit den Akademikern. Letztere wurden nach der Niederschlagung der Bewegung als Verursacher der Instabilität identifiziert und zum Teil hart bestraft.

Die Krise Ende der 1990er Jahre, ausgelöst durch Privatisierungen und die Auswirkungen der asiatischen Finanzkrise, betraf vorwiegend die Beschäftigten in Staatsunternehmen und mittelbar die gesamte Wirtschaft. Die Akademiker tauchten als potentielle Rädelsführer aber nicht auf: Sie zählten inzwischen zu den Gewinnern des Reformprozesses: viele Berufe, die eine akademische Ausbildung voraussetzten, wurden inzwischen gut bezahlt. Ab 1992 waren sie systematisch aufgewertet worden. Die Regierung führte zudem Ende der 1990er Jahre privaten Wohnungs- und Hausbesitz ein. Ein – wie sich zeigte – geschickter Schachzug, der die Energien der neuen Mittelklasse auf eine Weise bündelte, wie sie in Deutschland traditionell den Schwaben angedichtet wird. Die Akademiker bildeten jetzt einen Teil der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Elite und hatten großes Interesse an gesellschaftlicher Stabilität. Politische Umwälzungen hätten ihren Wohlstand ebenso gefährdet wie den des politischen Establishments.

Und wie ist die Situation heute? Warum reagiert die chinesische Regierung so nervös auf die wenigen offensichtlichen Oppositionellen? Kann sie sich der Unterstützung durch die Mittelschicht nicht mehr sicher sein? Nicht ganz: Da ist zum einen die wirtschaftliche Situation. Die globale Finanzkrise ist von China zunächst gut gemeistert worden. Doch seit einigen Monaten steigt die Inflation, und größere Reformen des Finanz- und Währungssystems könnten notwendig sein. Einigkeit hierüber herrscht aber nicht. Neben dieser erneut von außen gekommenen Krise gibt es eine breite Diskussion um das chinesische Wirtschaftsmodell. Vordergründig betrifft das die Frage, wie der Konsum gesteigert werden kann und wie statt arbeitsintensiver Produktion wissensbasierte Industrien und Dienstleistungen zum tragenden Wettbewerbsfaktor der chinesischen Wirtschaft werden können. Auch die Frage, wie der Übergang zu einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaft geschafft werden kann, ist umstritten. Es geht um elementare Fragen der Wirtschaftspolitik, die von ähnlicher Tragweite sind, wie die Reformen, die Ende der 1980er und 1990er Jahre anstanden.

Und erneut spielt die durch Akademiker geprägte „Mittelschicht“ eine bedeutende Rolle: Sieht sie sich weiterhin als Gewinner der wirtschaftlichen Entwicklung und befürwortet daher politische und gesellschaftliche Stabilität? Oder könnte sie zu einer oppositionellen Kraft werden, welche die Unzufriedenen unter den Bauern und Arbeitern hinter sich sammelt? Es scheint bei einigen die Auffassung zu geben, dass der errungene Wohlstand gefährdet ist. Zum einen wegen des zugrunde liegenden Wirtschaftsmodells, mehr noch, weil das Rechtssystem diesen Wohlstand nicht garantiert. In den 1990er Jahren wurde ein stiller Pakt geschlossen: Wohlstand gegen Loyalität zum politischen und sozialen System. Dagegen mehren sich heute die mahnenden Rufe, dass es eines funktionierenden Rechtssystems bedarf, das die Rechte des Einzelnen vor dem Staat schützt. Es ist unklar, wie verbreitet derartige Auffassungen sind. Offenbar ausreichend, um die Regierung in Unruhe zu versetzen und massiv gegensteuern zu lassen. Wobei jede scheinbar willkürliche Verhaftung das Gefühl der Ohnmacht des Einzelnen, selbst wenn er vergleichsweise wohlhabend ist, unterstreichen dürfte. Ein Ventil, wie seinerzeit die Einführung privaten Wohnungseigentums, wurde von der Regierung bisher nicht gefunden.

In dieser Situation spielen die jüngsten Entwicklungen in Nordafrika und im Nahen Osten der chinesischen Regierung eher in die Hand: Während Tunesien noch Sympathien ausgelöst haben mag, führen die jüngsten Entwicklungen in Libyen, Syrien etc. den potentiellen Unruhestiftern aus den Reihen der akademischen Mittelschicht eher vor Augen, was für sie auf dem Spiel steht. Wenn die Wahl Stabilität oder Chaos heißt, dann wird sich die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, und ganz bestimmt die akademisch geprägte Mittelschicht auch heute für eine Verschiebung von Reformen entscheiden. Und solange das der Fall ist, braucht sich die Regierung keine allzu großen Sorgen machen, dass lokale Arbeiter- und Bauernproteste das System als Ganzes in Frage stellen könnten.

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