Zeit zum Nachdenken über Entwicklung und Entwicklungspolitik

Zeit zum Nachdenken über Entwicklung und Entwicklungspolitik

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Wiemann, Jürgen
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 19.09.2011)

Bonn, York 19.09.2011. Heute beginnt im malerischen York in Nordengland eine viertägige Konferenz der europäischen Entwicklungsforscher und Entwicklungsinstitute. Die Konferenz mit dem Obertitel „Rethinking Development in an Age of Scarcity and Uncertainty – New Values, Voices and Alliances for Increased Resilience” wird gemeinsam vom britischen Verband der Entwicklungsforscher (Development Studies Association, DSA) und vom europäischen Dachverband der Entwicklungsinstitute (European Association of Development Institutes, EADI) ausgerichtet.

Die Konferenz findet unmittelbar nach dem 10. Jahrestag der Terroranschläge auf New York und Washington statt, welche die Aufmerksamkeit der USA und Europas viel zu lange von den eigentlichen Herausforderungen für die Weltgemeinschaft abgelenkt haben. Jetzt ist endlich Gelegenheit, nach vorn zu blicken, die richtigen Antworten zu finden und Schlussfolgerungen für die internationale Zusammenarbeit zu ziehen.

Mehrere globale und regionale Entwicklungstrends überkreuzen und verstärken sich gegenseitig. Da ist zum einen das Ende der Vorherrschaft der westlichen Welt und der Wiederaufstieg Chinas und Indiens, die wieder in ihre angestammten weltwirtschaftlichen Spitzenplätze vor der industriellen Revolution in Europa und Nordamerika hineinwachsen. Die Verschiebung des weltwirtschaftlichen Kraftzentrums von West nach Ost ist bisher noch friedlich verlaufen, doch die Verwerfungen bei den Handels- und Finanzströmen bringen die weltwirtschaftlichen Institutionen und Spielregeln an den Rand ihrer Belastbarkeit.

So ist nicht damit zu rechnen, dass die seit bald zehn Jahren laufende Doha-Entwicklungsrunde in der Welthandelsorganisation (WTO) in diesem Jahr zum Abschluss gebracht werden kann. Und die Finanzkrise nahm ihren Anfang in den USA, weil die Amerikaner sich noch nicht auf die neue Herausforderung eingestellt haben, ihren Konsum an die eigenen Produktionsmöglichkeiten anzupassen, anstatt die immer größeren Leistungsbilanzdefizite nach Belieben mit Dollars zu finanzieren. Je mehr die Rolle der eigenen Währung als „Weltgeld“ durch die strukturelle Exportschwäche und durch wachsende Zweifel der internationalen Kapitalanleger in die Rückzahlungsfähigkeit der US-Regierung untergraben wird (die Rückstufung des Risikos amerikanischer Staatsanleihen von AAA auf AA+ durch eine große Ratingagentur war ein deutlicher Warnschuss), umso unausweichlicher wird die strukturelle Anpassung der US-Wirtschaft an die neuen weltwirtschaftlichen Gegebenheiten. Die Amerikaner werden weniger konsumieren können, und die Regierung wird mehr in die Modernisierung der Infrastruktur und in Bildung, Forschung und Entwicklung investieren müssen, damit eines Tages wieder international wettbewerbsfähige Industrien entstehen.

Auch Europa muss seine Wirtschaft an den Wettbewerbsdruck der asiatischen Schwellenländer anpassen. Dabei ringt es mit dem besonderen Problem, dass die Bereitschaft zur Strukturanpassung in den Euro-Ländern unterschiedlich ausgeprägt ist. Während Deutschland wieder hohe Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet, fällt an der südlichen Peripherie ein Land nach dem anderen zurück. Diese Länder können ihre Staatsschulden nur noch mit Mühe bedienen. Die europäischen Regierungen stehen nun vor der unangenehmen Entscheidung zwischen griechischem Schuldenschnitt und den damit verbundenen Risiken für große europäische Banken, Entlassung Griechenlands und ggfs. weiterer zahlungsunfähiger Euro-Länder aus der Währungsunion oder weitergehender Integration mit europäischer Wirtschaftsregierung und gemeinsamen Staatsanleihen (Eurobonds).

Die Staatsverschuldung und die Währungsverwerfungen ließen sich leichter in den Griff bekommen, wenn die Regierungen der OECD-Länder noch über das keynesianische Instrumentarium verfügten, die Wirtschaft durch staatliche Nachfrageimpulse aus der Verschuldung „herauswachsen“ zu lassen. Das ist heute aus zweierlei Gründen kaum noch möglich. Zum einen erlaubt die bereits akkumulierte hohe Staatsverschuldung keine allzu großen weiteren Defizite zur Nachfragebelebung, zum anderen lässt sich das Wirtschaftswachstum gar nicht mehr so einfach ankurbeln wie in der Vergangenheit. Strategische Rohstoffe und Öl werden bei jedem weltweiten Aufschwung knapp, und die oft noch spekulativ übertriebenen Preissteigerungen lassen die staatlichen Konjunkturspritzen mehr oder weniger verpuffen. Außerdem zwingt die Drohung des Klimawandels und anderer globaler und regionaler Umweltkatastrophen die Staaten zu immer umfangreicheren Investitionen in regenerative Energien, Energieeffizienzsteigerung und in Anpassungsstrategien an den Klimawandel.

Gleichzeitig wird der jungen Generation in vielen Ländern bewusst, dass ihre Aussichten auf Arbeitsplätze und Einkommen, mit denen sich Familien gründen und einigermaßen ernähren lassen, von dem Zusammentreffen der ökonomischen und der ökologischen Krisen erheblich eingeschränkt werden. Dank der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien verbreitet sich dieses Bewusstsein schneller als autoritäre Regierungen wahrnehmen und gegensteuern können. Die „Arabellion“ bringt schon eine ganze Weltregion ins Wanken, Diktatoren werden verjagt oder angeklagt, und noch sind die politischen Strukturen nicht erkennbar, die am Ende der Umbruchprozesse dem Volkswillen am besten gerecht werden. Auch in Israel und sogar in Europa geht die Jugend auf die Straße mit der gleichen Wut und ähnlichen Formen des Protests. Es sieht so aus, als wollten sich die immer besser informierten jungen Menschen von keiner Ideologie und keinem fanatischen Glauben mehr für dumm verkaufen lassen. Stattdessen verlangen sie Gerechtigkeit und hoffen auf etwas Glück im Hier und Jetzt, also nichts anderes als "pursuit of happiness", was bereits die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten als Menschenrecht konstatiert. Wenn sich diese Wünsche auch nur ein wenig realisieren ließen, wäre das die beste Abwehr gegen fanatische Ideologen und terroristische Bewegungen.

Ob sich diese Wünsche werden erfüllen lassen, hängt zum einen von der Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise und zum anderen davon ab, dass die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung aller Länder in Einklang mit den bio-physischen Grundlagen unserer Erde für den Rohstoff- und Energieverbrauch moderner Gesellschaften gebracht wird. Gemessen an der zweiten Herausforderung sind alle Länder Transformationsländer auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise. Dabei könnte die Umstellung für manche der alten Industrieländer einschneidender sein als für die meisten Entwicklungsländer.

Umfassende internationale Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Verbreitung ressourcenschonender und klimaverträglicher Technologien und Produktionsweisen sowie bei der Umsetzung wirksamer Umwelt- und Klimapolitiken ist erforderlich, um die Herausforderungen zu bewältigen. Das alte Denken, wonach die reichen Industrieländer das Modell für die Entwicklungsländer sind und die Entwicklungszusammenarbeit sie auf diesen Weg geleiten und ihren politischen und wirtschaftlichen Strukturwandel unterstützen soll, muss einem neuen Denken weichen, das alle Länder vor der gemeinsamen Aufgabe sieht, auf einen erst in Umrissen erkennbaren Pfad nachhaltiger und klimaverträglicher Entwicklung einzuschwenken. Diese Herausforderung wird nur zu bewältigen sein durch weltweite Zusammenarbeit ohne ideologische Vorurteile und Besserwisserei der vermeintlich entwickelten Länder. Ein Jahr vor der großen Rio+20-Konferenz wird die EADI-Konferenz in York Gelegenheit bieten, die vielfältigen Herausforderungen in den Blick zu nehmen und die Konsequenzen für die internationale Zusammenarbeit zu erörtern.

Der Beitrag stellt die persönliche Meinung des Autors dar und muss sich daher nicht mit den Ansichten der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) decken.

Dr. Jürgen Wiemann, EADI Vice President, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und ehem. Stellv. Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE)

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Wiemann

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