Zur Prognosefähigkeit der Politikwissenschaft

Zur Prognosefähigkeit der Politikwissenschaft

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Faust, Jörg
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 04.07.2011)

Bonn, 04.07.2011. In jüngster Zeit ist angesichts der revolutionären Umbrüche im Nahen Osten die Debatte um die Prognosefähigkeit der Politikwissenschaft entbrannt. Dies gilt insbesondere für die Vorhersage von Trends und komplexen Ereignissen in den Ländern des Südens, deren Bedeutung für die globale Politik und damit auch für Deutschland und Europa im letzten Jahrzehnt deutlich angestiegen ist. Offensichtlich, so die gängige Vermutung, war die Disziplin nicht dazu in der Lage, die Protest- und Demokratiebewegungen im arabischen Raum angemessen vorherzusagen. Ähnlich schwach ausgeprägt, so scheint es, war es bereits früher um die Fähigkeit der Zunft bestellt, wenn nicht genau Ereignisse vorherzusagen, so doch zumindest einsetzende Trends bzw. deren Umkehr zu prognostizieren.

Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime Ende der 1980er Jahre gilt hierfür als ein Paradebeispiel, dem sich weitere hinzufügen lassen: Mitte der siebziger Jahre wurde Brasilien als Weltmacht von morgen tituliert. Kurz danach geriet das Land in eine Schuldenkrise, deren Auswirkungen das Land zwei Jahrzehnte in seiner internationalen Gestaltungsfähigkeit massiv beschränkten. Japan wurde Ende der 1980er Jahre zur neuen Weltmacht gekürt, bevor schon kurz darauf die strukturellen politischen und ökonomischen Schwächen des Landes die Revision dieser These erforderten. Anfang der 1990er Jahre rief Francis Fukuyama vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Ostblocks euphorisch das Ende der Geschichte bzw. den unvermeidlichen Siegeszug der Demokratie aus. Dem folgte jedoch bald eine Phase der Ernüchterung angesichts der Persistenz autoritärer Strukturen in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.

Hat die Politikwissenschaft also versagt mit Hinblick auf die Fähigkeit, tragfähige Prognosen für die Zukunft aus Erkenntnissen über vergangene Ereignisse zu entwickeln? Gegen eine solch pauschalisierende Schlussfolgerung lassen sich einige Gründe anfügen:

Erstens hat die Disziplin in einigen Bereichen nationaler Politikanalyse – insbesondere in der Wahlforschung – ein starkes Prognosepotential entwickelt. Zweitens lässt sich der zeitgenaue Eintritt hochkomplexer Ereignisse wie Demokratisierungsbewegungen, Revolutionen oder Bürgerkriegen nicht exakt vorhersagen. Allenfalls sind probabilistische Aussagen möglich, d.h. Aussagen über eine gewisse Wahrscheinlichkeit für Wandel oder Persistenz politischer Strukturen. Dabei herrscht in der Disziplin nach wie vor eine große Meinungsvielfalt darüber, welche sozialen und ökonomischen Faktoren relevante Aussagen für solche Phänomene sind und wie einzelne Faktoren zueinander gewichtet werden sollen. Letzteres ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Politikwissenschaft. Auch in der modernen Volkswirtschaftslehre sind die Ursachen komplexer wirtschaftlicher Phänomene - etwa diejenigen von Verschuldungs- oder Währungskrisen - nach wie vor umstritten, so dass die Prognosen wirtschaftswissenschaftlicher Beiräte oder Kommissionen gemeinhin eine große Bandbreite haben und in ihrer Treffsicherheit höchst unterschiedliche Erfolge erzielen.

Dennoch steht die Politikwissenschaft vor besonderen Herausforderungen, die sich vor allem aus dem Fehlen eines einheitlichen Wissenschaftsverständnisses ergeben. Über die Aufgaben, die anzustrebenden Fähigkeiten und die anzuwendenden Methoden in der Disziplin herrscht – zumindest in Deutschland – alles andere als Konsens. Ob der Fokus der Disziplin auf der Erklärung, der Beschreibung oder der normativ kritischen Beanstandung politischer Zustände liegen soll, ist zwischen den unterschiedlichen Theorieschulen immer noch umstritten. Dies gilt insbesondere für die Beschäftigung mit Entwicklungsländern und -regionen. Hier konkurrieren Vertreter moderner sozialwissenschaftlicher Auffassungen, die stärker die Erklärung politischer Phänomene betonen, mit solchen beschreibender historischer Ansätze oder normativ kritischer Schulen neomarxistischen Ursprungs.

Diese Uneinigkeit über den Anspruch des Faches behindert nicht nur einen kumulativen Lernprozess über die Ursachen vergangener politischer Phänomene und Trends, sondern auch die Möglichkeit, tragfähige Erkenntnisse über Ursache-Wirkungszusammenhänge in Prognosen für zukünftige Entwicklungen zu übertragen. Zwar gibt es auch in den Wirtschaftswissenschaften Theorie- und Methodendebatten. Doch herrscht hier ein Grundkonsens darüber, dass sich Theorien und Methoden an ihrer Fähigkeit messen sollten, wirtschaftliche Phänomene zu erklären, was den Transfer hin zur wissenschaftlichen Prognose deutlich erleichtert. Denn letztere versucht ja, aus den für vergangene Ereignisse identifizierten Erklärungsfaktoren Schlussfolgerungen für Wahrscheinlichkeitsaussagen über zukünftige Ereignisse oder Trends zu treffen.

Darüber hinaus wird die Arbeit an Prognosen in der Politikwissenschaft oftmals als wissenschaftlich minderwertiges Geschäft angesehen. Entsprechend schwach sind Prognosemethoden wie etwa Simulationstechniken und Szenarioanalysen gemeinhin in den Curricula politikwissenschaftlicher Studiengänge verankert. Auch die potentielle Nähe von Prognosearbeiten zur praktischen Politik und der Politikberatung wirkt in Deutschland als Hemmnis aufgrund der (beidseitig bedingten) Berührungsängste zwischen Politik und Politikwissenschaft. Dabei besteht in der Wissenschaft nicht selten die Sorge, dass die Zunft zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung stark auf eine politikbegleitende und politikberatende Rolle reduziert werden könne. Andererseits sollte die Wertigkeit einer sozialwissenschaftlichen Disziplin auch – keinesfalls ausschließlich – daran gemessen werden, ob sie mittels wissenschaftlicher Methoden seriöse Aussagen über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse und Trends machen kann. Die Politikwissenschaft sollte sich dieser Herausforderung auch mit Blick auf Entwicklungen jenseits der OECD-Welt aktiver stellen als bislang. Denn trotz ihrer fachlichen Heterogenität hat sie das hierfür notwendige wissenschaftliche Fundament und könnte so zumindest teilweise als Gegengewicht zu kruden Einschätzungen vieler selbsternannter Experten wirken, die in der öffentlichen Meinung oftmals das Bild politischer Prozesse in fernen Ländern prägen.

Über den Autor

Faust, Jörg

Politikwissenschaftler

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