Übergabe WBGU-Hauptgutachten „Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“

Klimaverträgliches Wirtschaften und nachhaltige Entwicklung

Pressemitteilung vom 07.04.2011

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) übergibt heute sein neues Hauptgutachten „Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“, an Bundesforschungsministerin Annette Schavan und Bundesumweltminister Norbert Röttgen. Der WBGU begründet in diesem Bericht die dringende Notwendigkeit einer post-fossilnuklearen Wirtschaftsweise, zeigt zugleich die Machbarkeit der Wende zur Nachhaltigkeit auf und präsentiert zehn konkrete Maßnahmenbündel zur Beschleunigung des erforderlichen Umbaus. Damit die Transformation tatsächlich gelingen kann, muss ein Gesellschaftsvertrag zur Innovation durch einen neuartigen Diskurs zwischen Regierungen und Bürgern innerhalb und außerhalb der Grenzen des Nationalstaats geschlossen werden. Nur mit einem tiefen gemeinsamen Verständnis von klimaverträglicher Wertschöpfung und nachhaltiger Entwicklung lässt sich die globale Krise der Moderne überwinden. Mit dem Gutachten zeigt der WBGU Perspektiven für die Zukunft nachhaltigen Wirtschaftens auf, die nach dem atomaren Desaster von Fukushima erst Recht auf der Agenda der nationalen und internationalen Politik stehen müssen.

Die Welt im Umbruch
Die Demokratiebewegungen, die gegenwärtig die Machtstrukturen der arabischen Welt erschüttern und die in kürzester Zeit zu kaum vorstellbaren Umwälzungen geführt haben, zeugen – wie etwa auch der Fall der Berliner Mauer im Jahre 1989 – von der Wirkungsmacht transformativer Kräfte, welche sich mitunter lange im Verborgenen aufbauen. Aus diesen Entwicklungen lassen sich vor allem zwei Lehren ziehen: Erstens ist die Zeit oft bereits reif für einschneidende Veränderungen, auch wenn die Oberfläche einer Gesellschaft noch den Eindruck von Stabilität vermittelt. Dies gilt nicht nur für das verstärkte Streben nach Selbstbestimmung und Teilhabe in vielen Regionen der Erde, sondern zeigt sich auch am klar belegten globalen Wertewandel in Richtung Nachhaltigkeit. Zweitens wirft das Taumeln der auf Öl- und Gasförderung gestützten autokratischen Systeme ein grelles Licht auf die immensen ökonomischen, politischen und sozialen Kosten einer Weltwirtschaft, welche fast ausschließlich von fossilen Energieträgern angetrieben wird – von den ökologischen Schäden ganz zu schweigen. Überdies verdeutlicht die atomare Tragödie in Japan, dass schnelle Wege in eine klimaverträgliche Zukunft ohne Kernenergie beschritten werden müssen. Das herkömmliche industrielle Modell zeigt international bereits Erosionserscheinungen. In vielen Ländern erleben die erneuerbaren Energien ein stürmisches Wachstum. Zahlreiche Regierungen, Städte und Unternehmen setzen klimaverträgliche Zukunftskonzepte in die Praxis um. In allen Bereichen der Gesellschaft gibt es Pioniere des Wandels, die sich aktiv für Dekarbonisierung und Ressourcenschutz einsetzen. Der WBGU bezeichnet diesen kraftvoll einsetzenden Strukturwandel als die „Große Transformation“ von der fossilen zur post-fossilen Gesellschaft – vergleichbar mit dem Übergang von der Agrargesellschaft zur kohlegestützten Mechanisierung im 18. Jahrhundert.

Eine Zukunft ohne Nuklearenergie
Nach Einschätzung des WBGU ist anspruchsvoller globaler Klimaschutz auch ohne Kernenergie möglich. Dies zeigen nicht zuletzt die Analysen des WBGU in seinem neuesten Gutachten. Im Zentrum jeder Dekarbonisierungsstrategie muss der massive Ausbau der erneuerbaren Energien und der dafür erforderlichen Infrastruktur stehen. Die Energiewende zur Nachhaltigkeit kann jedoch nur dann gelingen, wenn zugleich die gewaltigen Potenziale zur Effizienzsteigerung ausgeschöpft werden und die Änderung verschwenderischer Lebensstile, insbesondere in den Industrie- und Schwellenländern, kein Tabu mehr sind.

In einer Reihe von Ländern ist derzeit ein Ausbau der Kernenergie geplant. Davon rät der WBGU dringend ab, insbesondere wegen der nicht vernachlässigbaren Risiken schwerster Schadensfälle, der ungeklärten Endlagerungsproblematik und dem Risiko unkontrollierter Proliferation. Bestehende Kapazitäten sollten so rasch wie möglich durch nachhaltige Energietechnologien ersetzt und bei erkennbaren Sicherheitsmängeln umgehend stillgelegt werden. Der Ausstieg aus der Kernenergie darf aber nicht durch den Wiedereinstieg oder die Verstärkung von Energieerzeugung aus Braun- und Steinkohle kompensiert werden.

Blockaden überwinden und Wandel beschleunigen
Soll die Transformation zur klimaverträglichen Gesellschaft gelingen, müssen wir nicht nur das Innovationstempo forcieren, sondern auch aufhören, den Wandel zu blockieren. Das ist eine der zentralen Botschaften des WBGU. Eine zureichende Investitionsdynamik für eine zukunftsfähige Weltwirtschaft kann sich nur dann entfalten, wenn Subventionen für fossile Energieträger abgebaut werden, die weltweit im hohen dreistelligen Milliardenbereich liegen. Zudem müssen die externen Kosten des kohlenstoffbasierten Wachstums berücksichtigt werden, um Preissignale und dadurch Anreize für klimafreundliche Unternehmungen zu setzen.

Klimaschutz ist unbestritten eine notwendige Grundbedingung für eine global nachhaltige Entwicklung. Der WBGU hat mehrfach aufgezeigt, dass die Weichen für die weltweite Dekarbonisierung noch in diesem Jahrzehnt gestellt werden müssen. Nachhaltige Entwicklung bedeutet aber mehr als Klimaschutz, denn die Lebensgrundlagen der Menschheit umfassen viele weitere Naturgüter wie fruchtbare Böden und biologische Vielfalt.

Neuer Gesellschaftsvertrag
Die Transformation zur nachhaltigen Gesellschaft erfordert einen modernen Orientierungsrahmen für ein „gutes Zusammenleben“ von bald neun Milliarden Menschen mit sich und der Natur – einen neuen „Contrat Social“. Ein solcher, weitgehend virtueller Gesellschaftsvertrag beruht nicht zuletzt auf dem Selbstverständnis jedes Einzelnen als verantwortungsbewusstem Erdenbürger. Dieser Kontrakt wird auch zwischen Generationen geschlossen. Die Wissenschaft spielt hierbei eine essentielle Rolle, da ein tiefgreifender Wandel in historisch einmaliger Weise nicht aus unmittelbarem Zwang, sondern vorsorglich und aus wohlbegründeter Einsicht erfolgen muss. Insofern umfasst dieser Gesellschaftsvertrag auch eine besondere Übereinkunft zwischen Wissenschaft und Gesellschaft; dies ist eine weitere zentrale Botschaft des WBGU.

Ebenso geht es um eine neue Kultur demokratischer Teilhabe. Dafür werden im Gutachten zahlreiche Möglichkeiten vorgeschlagen, beispielsweise die Ernennung von Ombudsleuten zur Wahrung von Zukunftsinteressen. Mit der Aufnahme eines Staatsziels „Klimaschutz“ im Grundgesetz und einem Klimaschutzgesetz kann diese Nachhaltigkeitsorientierung konkret abgesichert werden. Der WBGU macht auch deutlich, dass eine klimaverträgliche Transformation nur erfolgreich sein kann, wenn sie in vielen Regionen der Welt zugleich vorangetrieben wird. Der Gesellschaftsvertrag umfasst daher auch neue Formen globaler Willensbildung und Kooperationen jenseits des Nationalstaats. In diesem Kontext empfiehlt der WBGU unter anderem die Schaffung eines dem Weltsicherheitsrat ebenbürtigen Rates für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen und die Bildung von Klima-Allianzen zwischen Staaten, Städten und Unternehmen.

Zehn Maßnahmenbündel
Der Ausstoß von Treibhausgasen erfolgt überwiegend durch die Energiewirtschaft und die Landnutzung, wobei die dramatische globale Urbanisierung eine entscheidende Rolle spielt. Damit sind drei zentrale Transformationsfelder benannt, wo Strategien zur Senkung von Emissionen schnell und umfassend greifen müssen. In diesem Zusammenhang empfiehlt der WBGU detailliert beschriebene Maßnahmenbündel, die besonders für die Beschleunigung und Verbreiterung des Übergangs zur Nachhaltigkeit geeignet sind:

  1. Um eine Dekarbonisierung weltweit voranzutreiben, sollte der Staat seine Rolle als Gestalter bewusst wahrnehmen. Dies ist jedoch nur zu legitimieren, wenn gleichzeitig den Bürgerinnen und Bürgern bessere Partizipationsmöglichkeiten eingeräumt werden.
  2. Das Treibhausgas CO2 sollte möglichst rasch und global mit einem angemessenen Preis belegt werden.
  3. Eine europäische Energiepolitik, die auf eine vollständige Klimaverträglichkeit des Energiesystems bis spätestens 2050 zielt, sollte schleunigst entwickelt und umgesetzt werden. Sie muss Partnerschaften mit Nordafrika gezielt fördern.
  4. Einspeisevergütungen für erneuerbare Energien sollten weltweit eingeführt werden.
  5. Entwicklungspolitik sollte insbesondere darauf zielen, dass die 2,5 bis 3 Mrd. Menschen, die heute in Energiearmut leben, Zugang zu nachhaltigen Energien bekommen.
  6. Große Anstrengungen sollten unternommen werden, um die sich beschleunigende weltweite Urbanisierung nachhaltig zu gestalten.
  7. Die Landnutzung sollte klimaverträglich gestaltet werden, insbesondere die Agrikultur und die Waldwirtschaft.
  8. Zur Finanzierung der Transformation und der erforderlichen massiven Investitionen sollten verstärkt neue Geschäftsmodelle herangezogen werden, die helfen, vorhandene Investitionsbarrieren abzubauen.
  9. In der internationalen Klimapolitik sollte weiterhin auf ein ambitioniertes globales Abkommen hingearbeitet werden. Zugleich muss die multilaterale Energiepolitik die weltweite Verbreitung klimaverträglicher Technologien fördern.
  10. Die Vereinten Nationen sollten in die Lage versetzt werden, wirksame Beiträge zur Transformation zu leisten. Entwicklungsorganisationen sollten zu Transformationsagenturen für Nachhaltigkeit umgebaut werden. Die G-20 sollten einen Fahrplan für wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der Grenzen des planetarischen Systems erarbeiten. Die Rio+20-Konferenz im Jahr 2012 bietet eine einmalige Gelegenheit, um weltweit die Weichen in Richtung Klimaverträglichkeit zu stellen.

Wissen und Gesellschaft
Trotz der breit akzeptierten Ziele und der bereits verfügbaren zukunftsfähigen Technologien ist die Transformation ein gesellschaftlicher Suchprozess. Forschung und Bildung kommt die Aufgabe zu, gemeinsam mit Politik und Bürgerschaft nachhaltige Visionen zu entwickeln, geeignete Entwicklungspfade zu identifizieren sowie klimaverträgliche und ressourcenschonende Innovationen zu verwirklichen. Aus diesem Grund empfiehlt der WBGU, die Forschung national und international stärker auf die Große Transformation auszurichten und die dafür notwendigen Mittel bereit zu stellen. Die relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse müssen überdies jedermann zugänglich und verständlich gemacht werden, damit die Menschen den Wandel akzeptieren und demokratisch mitgestalten können.

Hauptschauplätze der Transformation
Speziell beim Aufbau klimaverträglicher Energiesysteme besteht die Herausforderung darin, die Energiearmut in den Entwicklungsländern zu beenden und gleichzeitig die globalen CO2-Emissionen aus der Nutzung fossiler Energieträger rasch und drastisch zu mindern. Damit dies gelingt, darf die globale Endenergienachfrage nur noch unwesentlich steigen – sie liegt heute bei etwa 350 Exajoule (EJ) pro Jahr und sollte 2050 nicht mehr als 400-500 EJ pro Jahr betragen. Effizienzverbesserungen und Lebensstiländerungen sind daher in vielen Alltagsbereichen erforderlich. Aufgrund der großen Energienachfrage in Städten bildet die rasche Urbanisierung einen besonderen Brennpunkt. Für den Aufbau klimaverträglicher Energiesysteme gibt es aus technologischer Sicht verschiedene realistische Möglichkeiten. Der WBGU empfiehlt eine Strategie, die primär auf den beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien setzt. Der WBGU rät von einem Ausbau der Kernenergienutzung ab. CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) ist dagegen eine notwendige Klimaschutzoption für Länder, die übergangsweise weiterhin fossile Energien einsetzen. CO2-Sequestrierung könnte später auch eine wichtige Technologie darstellen, der Atmosphäre aktiv CO2 zu entziehen. In der Landnutzung liegt das Hauptaugenmerk auf der raschen Beendigung von Waldrodung und Walddegradation sowie auf der Förderung von klimaverträglicher Landwirtschaft und Ernährung. Der WBGU zeigt, dass die Kosten der Transformation signifikant gesenkt werden können, wenn in Europa gemeinsame Dekarbonisierungsstrategien umgesetzt werden. Auch stellt die Transformation für Europa eine große Chance dar, innovationsgetriebene Beiträge zu einer zukunftsfähigen Globalisierung zu leisten.

Rückfragen bitte an die Geschäftsstelle des WBGU, Tel. 030 263948-12 oder wbgu@wbgu.de

Über den WBGU:
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) wurde 1992 im Vorfeld der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung („Erdgipfel von Rio“) von der Bundesregierung als unabhängiges wissenschaftliches Beratungsgremium eingerichtet. Er hat neun Mitglieder, darunter DIE-Direktor Dirk Messner als Stellv. WBGU-Vorsitzender, die für jeweils vier Jahre von der Bundesregierung berufen werden.