Den Globus vor lauter Staaten nicht sehen: auf der Suche nach einem postnationalen Umgang mit globalen Herausforderungen

Den Globus vor lauter Staaten nicht sehen: auf der Suche nach einem postnationalen Umgang mit globalen Herausforderungen

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Figueroa, Aurelia
Die aktuelle Kolumne (2011)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne vom 28.11.2011)

Bonn 28.11.2011. Energiekrisen, Gesundheitsgefahren und Ernteausfälle: Die Auswirkungen globaler Herausforderungen sind je nach Lebenssituation und Aufenthaltsort weit weg oder nah dran. So oder so – sie sind weltweite Phänomene und betreffen jeden. Die Ursachen globaler Herausforderungen mögen ihre Wurzeln in bestimmten Aktivitäten und Orten haben, ihre Auswirkungen keimen lokal und global. Auf ihrem Weg in unser Bewusstsein scheinen sie in ungenannten Vorzimmern miteinander zu verschmelzen und sich zu verschwören, um in den vielfältigen Systemen der Welt ultimativen Schaden anzurichten. Sie verheddern sich ineinander und erzeugen Verflechtungen, deren Komplexität und gegenseitige Abhängigkeit einem Gordischen Knoten gleichkommt. Was sollen Politiker tun?

Wollen wir Lösungen finden und die Fakten globaler Herausforderungen verstehen, ist internationale Zusammenarbeit eine Conditio sine qua non. Bislang ist sie mit Erfolg in großem und kleinem Maßstab zum Einsatz gekommen. Es gibt sie in der Industrie, wo in ihrem Rahmen Lösungen für globale Herausforderungen erforscht, entwickelt und eingesetzt werden. Solche Aktivitäten lassen sich auch durch internationale Verträge wie das Montrealer Protokoll fördern. Ratifiziert vor mehr als 20 Jahren von inzwischen 196 Ländern, schützt es die Ozonschicht durch den Ausstieg aus Substanzen, die an ihrem Abbau beteiligt sind. Das Montrealer Protokoll ist ein gutes Beispiel dafür, wie Nationalstaaten einem globalen Ziel Vorrang eingeräumt und es dadurch realisiert haben. Allerdings braucht starke Nerven, wer nationale Prioritäten und internationale Agenden gegeneinander abwägen will. Das erfordert Hingabe und Ressourcen und vor allen Dingen einen postnationalen Ansatz.

Was verstehen wir unter Postnationalismus?
Die Definition von Postnationalismus in diesem Kontext geht auf Jürgen Habermas und andere zurück und bezieht sich ausdrücklich auf Nationalstaaten, die sich von nationalen Prioritäten lösen und globale Belange als vordringlich anerkennen. Eine Zeit lang befand sich die Welt im Stadium des Transnationalismus, doch damit ist Postnationalismus nicht ausreichend erklärt: Die bloße Natur globaler Herausforderungen verlangt von Entscheidungsträgern, globalen Gütern den Vorrang vor nationalstaatlichen Interessen zu geben oder sie zumindest mit ihnen auf eine Stufe zu stellen.

Dass globale Güter und nationale Interessen sich nicht überschneiden (dürfen), ist ein Fehlschluss. Im Gegenteil: Auf lange Sicht, wenn nicht schon mittel- und kurzfristig, gibt es viele solcher Überschneidungen. Die Schwierigkeit besteht offenbar darin, dass der Nutzen bzw. das Wissen um seine Existenz nicht unmittelbar besteht. Wir haben es bei internationalen Verträgen über öffentliche Güter mit einem klassischen Gefangenendilemma zu tun: Es gilt, auf kurze Sicht auf den potenziellen Lohn der Nicht-Einhaltung zu verzichten, ohne zu wissen, ob die anderen Beteiligten dem Beispiel folgen werden.

Derzeit erleben wir jedes Jahr viele Anlässe für koordinierten Postnationalismus. Trotzdem lässt sich manches internationale Ereignis nicht planen, ohne sich nationalen Interessen zu beugen, wie die kürzliche Umplanung des Rio+20-Gipfels wegen des 60. Thronjubiläum der Queen zeigt. Auf Zusammenkünften wie den G8- und G20-Gipfeln wird Postnationalismus bisweilen theoretisch -wenn auch nicht immer praktisch- umgesetzt. Allerdings sind die Erklärungen der G8 und der G20 nicht rechtsverbindlich. Auch im Bereich rechtsverbindlicher internationaler Verträge kursiert eine Geschichte, in der das Montrealer Protokoll die Rolle des Ausreißers spielt. Die jüngste Konferenz der Vertragsparteien des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen in Cancún und Kopenhagen beispielsweise hat die Erwartungen an die Konferenz der Vertragsparteien, die heute in Durban beginnt, bereits gesenkt.

Herausforderungen und Chancen
Während Entscheidungsträger noch unentschlossen beraten, stehen die globalen Herausforderungen längst bereit. Was kann einstweilen getan werden, um politische Entscheidungen zu ergänzen?

Maßnahmen in Form von internationaler Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technologie und Innovation haben ein enormes Potenzial bewiesen, praktikable Lösungen für globale Herausforderungen aufzuzeigen. Effective Governance Mechanisms for International Co-operation in Science, Technology and Innovation for Global Challenges, ein aktuelles Gemeinschaftsprojekt des OECD-Ausschusses für Wissenschafts- und Technologiepolitik, des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE), des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und verschiedener Fachleute aus sechs weiteren Ländern, will die Effizienz und Effektivität der Steuerung internationaler Forschungszusammenarbeit steigern, um unter anderem die Zahl der Lösungen für globale Herausforderungen zu erhöhen.

Fallstudien, die im Rahmen des Projekts bestehende Kooperationen analysieren, belegen den Stellenwert internationaler Zusammenarbeit für die Bewältigung globaler Herausforderungen. Solche Kooperationen reduzieren Energiearmut und den Ausstoß von Treibhausgasen (Durchführungsvereinbarungen der Internationalen Energieagentur), liefern Impfstoffe und Prophylaktika für gefährdete Gruppen („Bill & Melinda Gates“-Stiftung) und erarbeiten effizientere Anbaumethoden (Beratungsgruppe für internationale Agrarforschung), um nur einige Leistungen zu nennen.

Natürlich hat auch internationale Zusammenarbeit ihre Tücken. Auf dem Weg zu weltweiter Zusammenarbeit warten konkrete Hürden und nicht greifbare Hindernisse – alte und neue. Sie verändern sich in dem Maße, wie die Akteure sich weiterentwickeln, die Einsätze wachsen und die Finanzierung wechselt. Nur wenn in größeren internationalen Akteurskonstellationen Verantwortung eindeutig zugeordnet und Rechenschaftslegung gewährleistet ist, haben wir Trittbrettfahrern etwas entgegenzusetzen und können echtes Vertrauen schaffen. Die Verbesserung von Lenkungsstrukturen ist daher ein Muss: Nur so lässt sich das volle Potenzial internationaler Zusammenarbeit ausschöpfen.

Was sollen Politiker tun?
Im Kampf gegen globale Herausforderungen gibt es noch viele andere Hürden zu überwinden, darunter die verschiedenen Marktdefizite, die uns heimsuchen. Daher muss etwas getan werden. Erforderlich ist eine Aufstockung finanzieller Zusagen und Ressourcen für internationale Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technologie und Innovation.

Internationale Zusammenarbeit bewältigt globale Herausforderungen auf optimale Weise, wenn sie postnationales Denken verkörpert und den Fokus der Forschung – und ihren potenziellen Beitrag zu globalen Gütern – an erste Stelle stellt. Gleichzeitig dient diese Zusammenarbeit vielfach direkt nationalstaatlichen Interessen. Sie spart Geld, nutzt das Spezialwissen der Partner und wendet Technologien und Innovationen an, die zur Bewältigung globaler Herausforderungen beitragen. Von diesen Vorteilen profitieren wir indes nur dann, wenn wir unseren Blick auf globale Güter und über nationalstaatliche Prioritäten hinaus lenken und eine postnationale Herangehensweise an globale Herausforderungen in die Tat umsetzen.

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