Das Entwicklungsjahr 2015 – universelle oder nationale Entwicklung?

Das Entwicklungsjahr 2015 – universelle oder nationale Entwicklung?

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Scholz, Imme
Die aktuelle Kolumne (2015)

Bonn: German Development Institute / Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE) (Die aktuelle Kolumne, 12.01.2015)

Bonn, 12.01.2015. Das ehrgeizigste Projekt der Entwicklungspolitik in diesem Jahr ist, eine neue universelle Agenda für nachhaltige Entwicklung voranzubringen, die alle Länder dazu verpflichtet, für das nationale und das globale Gemeinwohl heutiger und zukünftiger Generationen zusammenzuarbeiten. Ist ein derartiges Projekt überhaupt möglich? Ist es angesichts eines verschärften wirtschaftlichen Wettbewerbs und zunehmender bewaffneter Konflikte und Kriege noch zeitgemäß? Ist Entwicklungspolitik ein Lernfeld für die Umsetzung universeller Kategorien?

Entwicklungspolitik hat sich lange Zeit am Vorbild der erfolgreichen Industrieländer orientiert. Inzwischen ist bekannt, dass dieses „Vorbild“ Mängel hat, wie die fehlende Umweltverträglichkeit von Konsum- und Produktionsmustern der Wohlstandsgesellschaft. Viele Errungenschaften wurden erst über soziale und politische Kämpfe möglich, etwa das allgemeine und freie Wahlrecht oder die Meinungsfreiheit. Die Entwicklungswege der heute wohlhabenden Länder waren sehr unterschiedlich. Sie unterscheiden sich auch heute noch in ihrer politischen und rechtlichen Verfasstheit.

Universelles entwicklungspolitisches Denken wäre also nicht: „Alle sollen die Möglichkeit haben, so gute Lebensbedingungen zu haben wie wir“, sondern eher, im Sinne Martha Nussbaums und Amartya Sens: „Alle Menschen sollen die Freiheit und die Fähigkeiten haben, sich frei zu entfalten“. Hier steht die Frage nach den Ansprüchen im Vordergrund, die allen Menschen zustehen, und für deren Erfüllung es verschiedene Wege gibt.

Wie wird eine derartig universell begründete Entwicklungspolitik glaubwürdig? Ihr wesentliches Instrument sind die finanziellen Mittel, mit denen sie Entwicklungsländer unterstützen kann, die bereit und fähig sind, sich zu verändern. Fehlt diese Bereitschaft, kann sie nicht helfen. Das Instrument hat über die Zeit vieles erreicht. Viele arme Länder finanzieren nach wie vor damit ihre öffentlichen Haushalte, insbesondere Bildung und Gesundheit. In vielen Ländern wurden Hochschulen und Umweltinstitutionen mit Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit aufgebaut. Aber in anderen Politikfeldern der reichen Länder werden Maßnahmen ohne Rücksicht auf die Belange der armen Länder getroffen. Der Einspruch der Entwicklungspolitik bleibt oft ungehört.

Diese Janusköpfigkeit der reichen Länder hat ihre entwicklungspolitische Glaubwürdigkeit geschwächt. Viele Entwicklungsländer sehen darin eine Fortsetzung der kolonialen Vorgeschichte. Diese Geschichte wurde mir eindrücklich in dem Buch „Aus den Ruinen des Empire“ von Pankaj Mishra vor Augen geführt. Der Autor stellt darin drei einflussreiche Denker aus Asien vor, die sich Ende des 19. Jahrhunderts mit den imperialistischen europäischen Mächten auseinandersetzen und ideologische und politische Gegenpositionen zur „westlichen Weltsicht“ entwickeln. Im Zentrum stehen die Versuche von Jamal al-Afghani, im Islam Anknüpfungspunkte für eine aufklärerische Wende zu bestimmen. Als er damit scheitert, liest er den Islam neu als antikoloniale politische Ideologie und legt damit die Basis für autoritäre religiöse Regime. Die anderen beiden Intellektuellen sind Liang Qichao aus China und Rabindranath Tagore aus Indien.

Mishra erinnert an den historischen Kontext (den Zerfall des osmanischen Reiches; den Niedergang Chinas nach den verlorenen Opiumkriegen) und an einen großen Hoffnungsmoment: Nach dem Ende des ersten Weltkrieges verteidigte der damalige US-Präsident Wilson das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Zur enormen Enttäuschung der asiatischen Delegationen, die zur Völkerkonferenz nach Paris reisten, zielte er damit aber nur auf die Neuordnung Europas, nicht auf die Befreiung der kolonialisierten asiatischen Länder.

So ist ein Grundmotiv des Buches, dass die universellen Werte der westlichen Großmächte in ihrer politischen Praxis im Ausland kaum Geltung haben. Was ist ein solcher Universalismus wert?

Aber worauf soll sich ein anderer Gesellschaftsentwurf beziehen, wenn er ein friedliches internationales Zusammenleben erreichen will? Die universellen Begriffe für Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit stammen aus der europäischen Tradition und bisher haben wir keine anderen.

Warum ist es für unsere Beziehungen mit Asien, für die politische Praxis der Post-2015-Agenda heute wichtig, diese Auseinandersetzungen zu kennen? Asiaten und Europäer sollten sich an den historischen Kontext erinnern, aus dem sie entstanden sind: eine Situation der Ohnmacht gegenüber den Mächten „des Westens“, die niemandem Rechenschaft schuldig waren. Und: auch im Westen gab es damals Bürgerbewegungen, die sich für die Rechte der unterdrückten Völker einsetzten, gegen die Sklaverei, gegen Rassismus.

Steht die Entwicklungspolitik in dieser Tradition, nur das eine, schwächere Gesicht des Westens zu repräsentieren? Die Post-2015-Agenda der Vereinten Nationen eröffnet die Chance, diese Janusköpfigkeit anzugehen und zu verringern, indem gemeinsam nach universellen Kategorien gesucht wird, die alle teilen, und Rechenschaft über die Umsetzung abgelegt wird. So kann auch die Glaubwürdigkeit des Westens als reeller Partner wieder wachsen.


Diese aktuelle Kolumne wurde am 12.01.2015 auch auf euractiv.de veröffentlicht.

Über die Autorin

Scholz, Imme

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