Hamas-Angriff auf Israel

Humanitäre Hilfe für die Palästinenser*innen trotzdem fortsetzen?

Humanitäre Hilfe für die Palästinenser*innen trotzdem fortsetzen?

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Loewe, Markus
Die aktuelle Kolumne (2023)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 12.10.2023

Bonn, 12.10.2023. Der Angriff, der am Samstag aus dem Gaza-Streifen auf Israel und seine Bürger*innen begann, ist aufs Schärfste zu verurteilen. Ohne Wenn und Aber. Er zielt bewusst und in grausamer Weise auf unschuldige Zivilisten und verstößt fundamental gegen internationales Recht. Vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen in der Region kommt der Angriff nicht vollkommen überraschend, auch wenn ihn die westlichen Geheimdienste zu diesem Zeitpunkt und in diesem Umfang offensichtlich nicht erwartet haben. Auf keinen Fall sollte sich der Westen nun zu vorschnellen Reaktionen hinreißen lassen. Die Unterstützung der Palästinenser*innen insgesamt und dauerhaft einzustellen wäre nicht richtig; zumindest humanitäre Hilfe sollte weiterlaufen.


Ein Hintergrund des Angriffs ist eine Initiative, die die Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien kürzlich auf dem G20-Gipfel in Indien vorgestellt haben. Sie besteht darin, einen Handelskorridor aus Bahnstrecken, Häfen und Flughäfen von Indien über Saudi-Arabien, die Vereinigten Emirate (VAE) und Israel nach Europa und Nordamerika zu errichten. Zum einen soll er ein Gegenstück zum chinesischen Projekt einer „neuen Seidenstraße“ von China über Russland und Zentralasien nach Europa und Afrika bilden und somit den Einfluss von China und Russland auf große Teile der Welt begrenzen. Zum anderen soll der Korridor die Golfstaaten stärker an den Westen binden und den alten Konflikt zwischen ihnen und Israel abbauen.


Schon seit Wochen gab es Warnungen, dass die Palästinenser*innen in der Westbank und im Gaza-Streifen die Verlierer*innen einer Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien sein könnten. Im Falle einer Annäherung zwischen Israel und den Golfstaaten hätten sie nur noch Rückendeckung aus Syrien und dem Iran, da sich auch viele andere arabische Länder wie Marokko und Jordanien in den letzten Jahren mit Israel arrangiert haben.


Der andere Verlierer wäre Iran, der sich seinerseits gerade erst auf einen von China vermittelten Prozess der Aussöhnung mit Saudi-Arabien eingelassen hatte. Hiervon hätten Syrien, der Jemen und die Palästinenser*innen profitiert: Syrien und der Jemen, weil Saudi-Arabien und der Iran in diesen Ländern gegnerische Kriegsparteien unterstützen, und die jeweiligen Kriege möglicherweise an Intensität nachgelassen hätten – und die Palästinenser*innen, weil eine gemeinsame Front von Iran und Saudi-Arabien ihnen den Rücken gegenüber Israel gestärkt hätte.


Hauptnutznießer des Angriffs auf Israel ist natürlich die Hamas, die sich innerhalb der Palästinensischen Gebiete, aber vor allem auch international, wieder als Speerspitze des Widerstands gegen Israel darstellen kann. Es profitieren zudem der Iran sowie möglicherweise China und Russland, auch weil der Kampf im Nahen Osten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit vom Ukraine-Krieg ablenkt. Alle drei Länder haben kein Interesse an einer Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel, die den Einfluss des Westens im Nahen Osten wieder stärken könnte. Es ist vor diesem Hintergrund durchaus vorstellbar, dass der Iran die Hamas zu dem Angriff auf Israel ermutigt hat. Darüber hinaus werden die bewaffneten Auseinandersetzungen dazu führen, dass die Reihen innerhalb der beteiligten Länder geschlossen werden und interne Auseinandersetzungen – wie zum Beispiel in Israel über die Justizreform – in den Hintergrund treten.


Verlierer des Angriffs sind hingegen Israel insgesamt und der Westen – auch weil die Annäherung zwischen Israel und den Golfstaaten nun in den Sternen steht und Fokus vom Ukraine-Krieg abgelenkt wird. Ebenso wird aber die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen Schaden nehmen, die unter der Herrschaft der terroristischen Hamas lebt und viel mehr als die Hamas selbst unter dem israelischen Gegenangriff leidet.


Genau deshalb sollte die humanitäre Unterstützung der Bewohner*innen im Gaza-Streifen nicht dauerhaft beendet werden. Diese hatte nie zum Ziel, die Hamas zu stärken, sondern die Zivilbevölkerung vor den schlimmsten Auswirkungen der Hamas-Herrschaft wie auch der Blockade des Gazastreifens durch Israel zu bewahren. Auch diese war in Teilen völkerrechtswidrig. Es war und ist die historische Verantwortung des Westens, dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung im Gazastreifen, die ja auch nur teilweise hinter der Hamas steht, Zugang zu Wasser, Nahrung, Gesundheitsdienstleistungen und Bildung behält. Genau hier setzte die deutsche Entwicklungszusammenarbeit schon bisher an, und sie lief vor allem über das Rote Kreuz, die Europäische Union und internationale Organisationen.


Zudem ist es überhaupt nicht im Interesse des Westens, die Polarisierung zwischen Israel und den Palästinenser*innen zu vertiefen. In vielen Ländern würde darunter die Sympathie für den Westen leiden. Ohnehin wird ihm vielerorts Scheinheiligkeit vorgeworfen: Er verteidige nur die Rechte der Menschen in Israel und der Ukraine und ignoriere das Leiden der Menschen in Palästina, Syrien, dem Jemen und anderen Ländern.


Und auch aus ethischen Gründen kann es nicht darum gehen, jetzt vorschnell alle Unterstützung der Palästinenser*innen einzustellen. Richtig ist: Die Hamas war und ist eine terroristische Vereinigung. In ihrer historischen Verantwortung gegenüber Israel müssen Deutschland und Europa stets gründlich prüfen, welche Maßnahmen der Unterstützung möglicherweise doch der Hamas in die Hände spielen. Hierunter darf aber die palästinensische Bevölkerung nicht noch zusätzlich leiden. Deutschland und Europa müssen auch langfristig den Israelis und den Palästinenser*innen zur Seite stehen. 

Über den Autor

Loewe, Markus

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