Solidarität und Menschlichkeit!

Grauzonen statt Polarisierung zum Nahost-Krieg

Grauzonen statt Polarisierung zum Nahost-Krieg

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Houdret, Annabelle
Die aktuelle Kolumne (2023)

Bonn: German Institute of Development and Sustainability (IDOS), Die aktuelle Kolumne vom 08.11.2023

Bonn, den 08.11.2023. Die deutsche Geschichte, der im dritten Reich vollzogene Völkermord an 6,5 Millionen Juden, und die damalige Verfolgung und systematische Ausrottung von Juden und weiterer Bevölkerungsgruppen begründen die Solidarität der Bundesregierung mit Israel. Gleichzeitig haben uns die Grauen des Holocausts gelehrt, dass Gemeinwohl nur möglich ist, wenn Menschlichkeit und die Solidarität mit unseren Mitmenschen jenseits von religiöser, ethnischer, geschlechtlicher Identität unser Handeln im In- und Ausland leitet. Das nach der Erfahrung des 2. Weltkriegs weiter entwickelte Völkerrecht stellt eben diesen Schutz der Menschlichkeit in den Fokus.  Auch angesichts der humanitären und politischen Katastrophe in Gaza müssen Solidarität, Menschlichkeit und das Völkerrecht für alle gelten.

Die Lehren der deutschen Geschichte und das Völkerrecht konnten nicht verhindern, dass die Hamas mit ihrem brutalen Anschlag 1400 Menschen in Israel ermordet hat. Sie konnten nicht verhindern, dass seitdem mehr als 10.000 Menschen in Gaza den Angriffen des israelischen Militärs zum Opfer gefallen sind. Beides stellt die Wahrung des Völkerrechts in Frage, aber auch die viel proklamierte wertebasierte Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik Deutschlands, und unser eigenes Miteinander hier in Deutschland. Innen- und außenpolitisch ist es gerade angesichts der Polarisierung wichtig, jenseits der schwarz-weiß-Einstellungen differenzierter die Grauzonen der Wirklichkeit auszuloten: Bevölkerungsgruppen nicht pauschal zu verurteilen; Antikriegsstimmen in Israel ebenso anzuerkennen wie die Tatsache, dass keineswegs alle Palästinenser*innen oder Araber*innen die Hamas unterstützen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die dieser Tage leider verloren gegangen scheint. Die Wiederaufnahme der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Gaza ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Denn die ‚uneingeschränkte Solidarität‘ Deutschlands stellt angesichts der humanitären Katastrophe im Gazastreifen die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Zusammenarbeit mit der arabischen Welt in Frage, die Wahrhaftigkeit unseres Versprechens an die arabischen Bevölkerungen, seit dem arabischen Frühling erst Recht den Schutz von Menschenrechten zu unterstützen. Organisationen der Zivilgesellschaft wenden sich in diesen Tagen empört ab von deutschen Stiftungen und Entwicklungsorganisationen im arabischen Ausland, die Kommunikationskanäle schrumpfen. Auch im europäischen Ausland fordern Stimmen ein Überdenken des  Verhältnisses Deutschlands zu Israel.

Wenn Tausende von Kindern getötet und verletzt werden, befeuert dies auch die ohnehin zunehmende Polarisierung der internationalen Politik. Angefangen von der globalen Ebene, wo die Spannungen zwischen dem ‚Westen‘ und einem wie auch immer definierten ‚Süden‘ an die Zeit des Kalten Krieges erinnern. Dies trägt zur Verhärtung der geopolitischen Fronten bei, die es noch schwieriger macht, dringende globale Probleme in gemeinsamem Interesse zusammen anzugehen- vom Klimawandel bis zu globalen Gesundheitsfragen.

Auch der Umgang miteinander in Deutschland leidet derzeit unter Geschichtsvergessenheit - die Angriffe auf jüdische Menschen und Einrichtungen sind nicht tolerierbar und es ist schockierend, dass so etwas wieder verstärkt geschieht. Antijüdische und antiisraelische Pauschalverurteilungen in der arabischen Gemeinschaft Deutschlands befeuern nur die Polarisierung - „Nie wieder“ muss für immer gültig bleiben. Jegliche Solidaritätsbekundung mit dem Leid der palästinensischen Bevölkerung oder Kritik an der Politik Israels als Antisemitismus zu stigmatisieren, führt jedoch am Kern des Problems vorbei und trägt nur zu weiterer Spaltung bei. Die u.a. in einer Studie des Bundesinnenministeriums festgestellte verbreitete Muslimfeindlichkeit in Deutschland beflügelt aktuell zusammen mit dem quasi-Verbot öffentlicher Solidarität mit Palästina Ausgrenzung und Entfremdung. Friedliche Stimmen unter den Palästinenser*innen und Arabischstämmigen in Deutschland bekommen zu wenig Gehör.

Die deutsche Sicherheitsstrategie strebt die ‚Sicherung unserer Werte durch innere Stärke‘ an. Zentral für dieses Leitbild ist,  jeglichen Formen der gesellschaftlichen Polarisierung entgegen zu wirken und stattdessen gesellschaftlichen Zusammenhalt aktiv zu fördern. Denn auch innenpolitisch sollte uns gerade die Geschichte lehren, dass nur im Dialog gemeinsame Werte erkannt und verteidigt werden können, und dass Menschlichkeit auch über politische Polarisierung hinweg gelten muss, um ein gemeinsames Miteinander zu ermöglichen. Hierfür braucht es ein „einfühlsames Verstehen und Anerkennen der Erfahrungen und Sorgen des jeweils anderen“.

Unserer Geschichte bewusst zu sein heißt, niemals auf der Basis von Religion, Ethnie, Geschlecht und anderen Markern der sozialen Identifikation auszugrenzen. Es heißt, empfindsam zu sein für menschliches Leid und dieses aktiv zu bekämpfen. Solidarität mit den Opfern in Israel zeigt, dass wir nach den Erfahrungen des Holocausts aufmerksam sind für Verletzungen der Menschlichkeit – gerade auch die der Menschen in Gaza und in der West Bank.

Deutschland sollte sich gerade angesichts seiner historischen Verantwortung für einen sofortigen Waffenstillstand einsetzen und zu einer langfristigen politischen Lösung des Konflikts beitragen. Es kann und soll die Sicherheit und das Existenzrecht Israels mit garantieren – aber auch den Aufbau eines souveränen palästinensischen Staates fördern, und die Einhaltung des Völkerrechts von allen einfordern. Nur Souveränität, Sicherheit und Wohlstand in beiden Gemeinschaften, der Israels und der Palästinas, können zumindest ein gewaltfreies ‚Nebeneinander‘ und langfristig vielleicht auch wieder ein ‚Miteinander‘ unterstützen. Neben der unabdinglichen militärischen Sicherheit ist es hierfür wichtig, gerade auch die Grauzonen zuzulassen.

Über die Autorin

Houdret, Annabelle

Politikwissenschaftlerin

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